Utopie und Verbrechen

Eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum widmet sich den Erfolgen und dem Versagen der Aufklärung

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 5 Min.
Modell eines menschlichen Auges, Nürnberg um 1700
Modell eines menschlichen Auges, Nürnberg um 1700

Auf gleich zwei Etagen können Besucher*innen des Deutschen Historischen Museums (DHM) derzeit ein folgenreiches Kapitel der Geistesgeschichte nachverfolgen. Deutlich werden soll, was die Aufklärung in ihren Anfängen war und was davon heute noch wichtig ist. Und die Exposition schafft es tatsächlich, sehr alte und mithin komplexe Sachverhalte greifbar zu machen: Vom Einfluss der Antike auf das moderne Denken über die Entstehung des Begriffs des Individuums; über die Rolle der Religion vor und nach der Aufklärung; über die entscheidende Rolle, welche Bildung in einer aufgeklärten Gesellschaft spielen sollte.

Die Anfänge der Aufklärung lagen allerdings weit vor ihrer im DHM behandelten Hochzeit im 18. und 19. Jahrhundert, was leider hier vernachlässigt wird. Beispielsweise kommt mit René Descartes jener Denker des 17. Jahrhunderts nicht vor, welcher erstmals den reflektierenden menschlichen Verstand als entscheidendes Mittel ansah, haltbare Erklärungen für die Beschaffenheit der Welt zu liefern. Damit untergrub er das Deutungsmonopol der christlichen Kirchen nachhaltig. Was wäre das moderne Denken ohne Descartes?

Freilich hat Klugheit allein nicht geholfen. Es bedurfte ebenso Druckereien, Poststationen, Zeitungen, Caféhäuser und Salons. Solche »Orte der Aufklärung«, wie eine der Ausstellungsabteilungen überschrieben ist, sorgten dafür, dass neue Gedanken unter die Leute kamen. Alten Gemälden ist zu entnehmen, welche Begeisterung, welch leidenschaftliche Debatten das Denken einst auslöste. Mit anderen Worten: Die Aufklärung war nie eine rein akademische, schon gar keine trockene Angelegenheit.

Selten unterscheiden sich Ausstellung und Ausstellungskatalog so sehr wie in diesem Fall. Der Katalog vertieft die Thematik mit klugen Textbeiträgen, die Ausstellung beeindruckt dafür mit einer enormen Fülle von Gegenständen. Gleich zu Beginn verdeutlichen ein Teleskop und ein Mikroskop, beide Jahrhunderte alt, wie Technik half, den menschlichen Horizont zu erweitern. Machte das Teleskop die unermessliche Größe des Weltraums sichtbar, ließ das Mikroskop die ebenso unbekannte Welt im Kleinen erkennen: die Bausteine des Lebens. Allerorten begann man, die Natur und ihre Funktionsweisen gründlich zu erforschen.

Laut den Aufklärern sollte der freie Gebrauch der Vernunft Rechtsstaat und Demokratie befördern.

Das Denken wurde wissenschaftlich, um die Menschen, wie es der Schriftsteller Jean Améry einmal ausgedrückt hat, von ihren mannigfaltigen, die Welt vor der Aufklärung regierenden Ängsten zu befreien: Angst vor dem Körperschmerz, für den es keine Linderung gab; Angst vor Göttern, Götzen, Dämonen; Angst vor den ungebändigten Naturgewalten; Angst vor den Herrschenden, deren sadistische Machtausübung durch kein Gesetz eingeschränkt war. 

Auf einigen in der Ausstellung zu sehenden Bildnissen ist die Vernunft dargestellt als Licht am Horizont, dem die Welt sich Schritt für Schritt annähert. Dies zeigt: Entgegen dem Anschein weist auch das neue wissenschaftliche Denken noch religiöse Züge auf, wird angetrieben von der Hoffnung auf Erlösung von sämtlichen Mängeln und Leiden irdischer Existenz. Angesichts des in der Aufklärungszeit einsetzenden hemmungslosen Forschungsdrangs empfanden und empfinden übrigens nicht wenige ein tiefes Unbehagen. So der deutsch-britische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler W. G. Sebald, der meinte, das unaufhörliche Sezieren und Systematisieren menschlicher Körper führe am Ende dazu, den Menschen als Maschine aufzufassen, die man restlos für die Arbeit nutzbar machen und bei Störung wieder reparieren oder wegwerfen kann.

Das größte Wagnis der Aufklärungsbewegung dürfte wohl darin bestanden haben, ein anderes Weltbild neben das der damals alles beherrschenden Religion zu stellen. In einer Vitrine ist ein Originalexemplar der »Berlinischen Monatsschrift« von 1784 ausgestellt, in welcher Immanuel Kants Essay »Was ist Aufklärung?« abgedruckt ist. Er enthält, brillant auf den Punkt gebracht, entscheidende Grundlagen der Aufklärung. Kant schreibt in diesem Zeitungsbeitrag, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und Unmündigkeit das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Nach dem Dafürhalten der Aufklärer sollte der freie Gebrauch der Vernunft die Gesellschaft und ihre Öffentlichkeit bestimmen, Rechtsstaat und Demokratie befördern. Allerdings musste Kant seine sämtlichen theoretischen Hauptwerke als Privatmann veröffentlichen. Als Universitätsprofessor und Angestellter des absolutistischen preußischen Staates, der er war, durfte er seine das Denken revolutionierende Philosophie nicht vortragen – das hätte die Zensur zu verhindern gewusst.

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Gleichwohl hatten die Ideale der Aufklärung realpolitische Folgen, gingen – nach Revolutionen – in die Verfassungen der Vereinigten Staaten von Amerika (1776) und Frankreichs (1793) ein. Das aufklärerische Gesellschaftskonzept, bestimmt vom Gedanken der Gleichheit aller Menschen, sah eine weitgehende Beteiligung der gesamten Bevölkerung am Prozess politischer Willensbildung, massive Beschränkungen der Machtbefugnisse von Staat und Regierenden sowie Gewaltenteilung vor.

Die Wirklichkeit hinkte dem Ideal freilich hinterher. Beispielsweise wurde Frauen in den frühen Demokratien das Wahlrecht und der Universitätsbesuch mit dem Argument verweigert, sie seien zur Rationalität nicht in der Lage. Oder die Aufklärer unternahmen trotz ihrer emanzipatorischen Ideale nichts gegen den ausbeuterischen, mörderischen Kolonialismus europäischer Nationen – und in ihrer Mehrzahl auch nichts gegen die Sklaverei. Mehr noch: In den Schriften mancher Aufklärungsklassiker findet sich rassistisches Gedankengut. All das hat dazu geführt, dass einige heutige Intellektuelle das Projekt der Aufklärung entweder fundamental infrage stellen oder gänzlich verwerfen. Manche von ihnen kommen in den Medienstationen der Ausstellung ausführlich zu Wort.

An anderen Stellen wiederum wird herausgestellt: Alle Freiheiten, derer man sich heute in demokratisch verfassten Gesellschaften erfreut, sind Früchte der Aufklärung. Um die Defizite, Probleme, Schattenseiten der Aufklärung zu erkennen und zu korrigieren, ist immer noch nichts besser geeignet als das geistige Instrumentarium, das die Aufklärung zur Verfügung stellt.

Womit wir bei einem schönen Merkmal der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum angelangt wären: Nicht nur bietet sie ungemein viel Stoff zum Thema, lässt erkennen, wie eng Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden, besser: verstrickt sind – vor allem fordert sie ihre Besucher*innen zum Mitdenken darüber auf, wie ein menschenwürdiges Zusammenleben, eine menschenwürdige Gesellschaft denn beschaffen sein sollte.

Weil die Ausstellung »Was ist Aufklärung?« selber im besten Sinne aufklärerisch ist, sollte wirklich jede und jeder in diesem Land sie sehen.

»Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert«, DHM, bis 6.4.25, Eintritt 7 €, ermäßigt 3,50 €, bis 18 Jahre frei; täglich 10–18 Uhr, geschlossen: 24.12., 31.12. 10–14 Uhr, 1.1. 12–18 Uhr.

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