Wenn das Raacherweibl naablt

Sächsische Studierende wollen zu mehr Diversität in der erzgebirgischen Volkskunst ermutigen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.
Melanie Hühn mit der Räucherfigur »Burning Gender« und »Empowerella«
Melanie Hühn mit der Räucherfigur »Burning Gender« und »Empowerella«

Typisch Mann: Steht am Heiligen Abend in der Stube herum, aber bekommt den Mund nicht auf. Wobei: Das »Maul«, wie es im Liedtext heißt, ist ja offen, sperrangelweit sogar. Daraus steigen »Schwoden« zur Decke hinauf, die den Raum mit Duft erfüllen. Das aber ist der einzige Beitrag, den der Kerl zum weihnachtlichen Geschehen leistet: Er »nabelt un sat kaa Wort drzu«, heißt es auf Erzgebirgisch – er nebelt und sagt kein Wort dazu. Pflegte man Geschlechterklischees, könnte man achselzuckend feststellen: Männer eben. In dem Fall ist es, wie der Titel des Liedes verrät, »’s Raachermannl«, der Räuchermann.

Alternativen gibt es kaum: Räucherfrauen sind selten zu finden, und wenn, »dann strotzen sie vor Klischees«, sagt Melanie Hühn. Der Kulturwissenschaftlerin fiel das auf, als sie bei einem früheren Fest den Weihnachtsschmuck auspackte, den sie geerbt oder im Laufe der Jahre gekauft hatte. Bei Hühn, die am Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation an der Technischen Universität Chemnitz tätig war, gehört dazu auch erzgebirgische Volkskunst. Und weil Diversität für sie ein wichtiges Thema ist, stach ihr ins Auge, wie schlecht es darum bei festlichen Deko-Artikeln bestellt ist: »Ich fand es kurios, dass es keine Nussknackerinnen und kaum Räucherfrauen gibt.«

Weil Wissenschaftlerinnen solche Phänomene nicht schlicht zur Kenntnis nehmen, sondern ihnen auf den Grund zu gehen suchen, entwarf Hühn ein Fachseminar namens »Smoking Chemnitzer:in«, das sich mit Volkskunst und Kunsthandwerk im Erzgebirge beschäftigte und einen Beitrag zu mehr Vielfalt in diesem Bereich leisten wollte. Es wurde gefördert als Beitrag der Universität zu 2025, dem Chemnitzer Jahr als europäische Kulturhauptstadt.

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Chemnitz sei stark von Maschinen- und Automobilbau geprägt und »eine sehr männliche Stadt«, sagt Hühn. Ihre Studierenden führten eine Umfrage zu bekannten Chemnitzern durch. Unter den Genannten waren außer der Eiskunstläuferin Katharina Witt nur Männer. »Frauen sind hier stark unterrepräsentiert«, sagt Hühn. Die Kulturhauptstadt könne ein Anlass sein, das zu ändern, zumal ihr Motto laute: »C the unseen«, also etwa: Sieh das Ungesehene. Da die Hauptstadt die Region und damit das Erzgebirge einbezieht, lag es nahe, dessen kulturelles Erbe unter die Lupe zu nehmen und ihm frischen Wind einzuhauchen.

Für das Seminar tauchten Hühn und ihre Studierenden in die Fachliteratur zum Thema ein, unternahmen Exkursionen in das Museum für Sächsische Volkskunst oder zu Kunsthandwerkern im Erzgebirge. Sie fanden Erklärungen dafür, warum zumindest ursprünglich Frauen bei den weihnachtlichen Schmuckfiguren nicht vertreten waren. Nussknacker, sagt Hühn, hätten stets Vertreter der Obrigkeit dargestellt: Könige, Militärs, Gendarmen. Es waren gesellschaftliche Positionen, die historisch Männern vorbehalten waren.

Räuchermänner dagegen stellten, als sie ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Markt kamen, einfache Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt dar: Jäger und Schornsteinfeger, Vogelhändler und Briefträger. Es wirke zunächst »merkwürdig«, dass darunter keine Frauen seien, sagt Hühn. Allerdings sei ihr wichtigstes Utensil eine Pfeife, »und eine solche zu rauchen, war lange Männern vorbehalten«, so Hühn.

Das änderte sich erst in den 1920er Jahren, als die Zigarette zum Signet der modernen Großstädterin wurde. Rauchende Frauen, heißt es in einer Kulturgeschichte zum Thema, hätten »erst als sittenwidrig (gegolten), dann wurden sie zum Sexsymbol«. Im traditionellen Ensemble der erzgebirgischen Räucherfiguren schlug sich das kaum nieder. Es gibt die Kloßfrau, bei der es aus der Schüssel dampft, oder die Großmutter im Schaukelstuhl, daneben die Blumenfrau mit Zigarette und ein paar weitere weibliche Figuren. Die meisten aber »wirken sehr stereotyp«, sagt Hühn. »Mich selbst spricht da wenig an.«

»Uns wurde vorgeworfen, dass wir die erzgebirgische Tradition zerstören.«

Melanie Hühn Kulturwissenschaftlerin

Die vier Figuren, die im Rahmen des Seminars entstanden, sind anders. Es handelt sich um Frauen und eine queere Person jenseits klischeehafter Rollenzuschreibungen. »Empowerella« zeigt eine Musikerin mit Gitarre, die von der Chemnitzer Frauenband Blond inspiriert ist. Sie lehnt lässig an dem zum Wahrzeichen der Stadt gewordenen bunten Kraftwerksschornstein und zeige »weibliche Merkmale, jedoch ohne die typischen, stereotypen Körperproportionen«, heißt es in der Beschreibung. Daneben gibt es eine Professorin und eine vietnamesische Krankenpflegerin – sowie mit »Burning Gender« den Versuch, eine Figur zu schaffen, bei der »das Geschlecht zu etwas Nebensächlichem« wird.

Als die Figuren, die nach Entwürfen der Studierenden von dem Kunstgestalter Markus Weber aus Schneeberg erschaffen wurden, in Chemnitz öffentlich präsentiert wurden, gab es viele positive Reaktionen, berichtet Hühn. »Wir kamen mit den vorwiegend älteren Besuchern über Themen wie Geschlecht oder Migration ins Gespräch«, sagt sie. Gänzlich anders war die Resonanz im Netz. Als der MDR knapp über die Ausstellung berichtete, gab es Tausende Kommentare, viele davon hasserfüllt. »Uns wurde vorgeworfen, dass wir die erzgebirgische Tradition zerstören.«

Die allerdings setzte sich immer offen mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander, sagt die Wissenschaftlerin Nadine Kulbe: »Das war nie etwas Statisches.« Kulbe arbeitet am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde an der TU Dresden, ist eigentlich Fotografie-Expertin, hat sich aber mit dem Thema der erzgebirgischen Volkskunst beschäftigt, als 2015 Pegida aufkam. Die islamfeindliche Bewegung stattete ihre Anhänger auch mit weihnachtlichen Dekorationsartikeln aus, etwa einem in Seiffen gefertigten Räuchermann mit Pegida-Transparent.

Kulbe fand das Motiv umso bemerkenswerter, als die erzgebirgische Volkskunst quasi »islamisiert« ist, seit im 19. Jahrhundert die »Räuchertürken« erschaffen wurden. Mit ihnen bedienten Hersteller die in Europa verbreitete »Türkenmode«. Auch in Krippen, auf Pyramiden und Weihnachtsbergen gab es orientalische Figuren und Szenerien, die sich auf die biblische Weihnachtsgeschichte bezogen. In der NS-Zeit habe es Versuche gegeben, sie zu verdrängen, sagt Kulbe. Am Weihnachtsbaum sollten »Gebildbrote« mit germanischen Runen hängen. Auch der heute klassischste aller Schwibbögen mit Bergmännern, Schnitzer und Klöppelfrau wurde in den NS-Jahren entworfen, als erzgebirgische Motive zuvor populäre Darstellungen wie die Heiligen aus dem Morgenland ersetzen sollten.

In jüngeren Jahren hätten Kunsthandwerker im Erzgebirge immer wieder auf politische Phänomene reagiert, sagt Kulbe. Neben der Pegida-Figur gab es 2015 auch Schwibbögen mit »Refugees welcome«-Motiv. Gut verkauft wurden Räuchermänner in Gestalt des Virologen Christian Drosten oder von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit typischer Handhaltung. Es spreche daher wenig dagegen, auch moderne Frauenfiguren, migrantische oder queere Menschen in den weihnachtlich-erzgebirgischen Formenkanon aufzunehmen. »Man muss den Herstellern nur signalisieren, dass es daran Interesse gibt. Sie produzieren, wonach es Nachfrage gibt«, sagt Melanie Hühn, die selbst auch eine Wunsch-Räucherfigur hätte: »Am liebsten wäre mir eine, die sich mit verschiedenem Zubehör jedes Jahr anders gestalten lässt: in wechselnden Berufen und mal als Frau, mal als Mann.« Hauptsache, es naabelt.

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