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Anschauung und Abstraktion
Der Maler und Grafiker Dieter Goltzsche wird 90
Er lebt ein stilles Künstlerleben in Berlin-Friedrichshagen. Still heißt: Dieter Goltzsche liest viel, schläft nach einem für Außenstehende schwer verstehbaren, aber unabänderlichen Rhythmus, fährt regelmäßig (aus Fitnessgründen) mit dem Fahrrad durchs Viertel hinab zum Müggelsee, atmet dabei die Atmosphäre des Friedrichshagener Dichterkreises um Wilhelm Bölsche (ein ewiger Jungbrunnen), fühlt sich Johannes Bobrowski nahe, der unweit wohnte. Ein Ort der Dichter, doch der letzte Buchladen auf der Bölschestraße, so klagt er, habe gerade aufgegeben. Natürlich arbeitet Goltzsche viel, denn ohne Pinsel und Stift fühlte er sich unvollständig.
Sein bildnerisches Werk ist ohne die Dichtung nicht zu verstehen. Er hält gleichsam malend und zeichnend Zwiesprache mit ihr. Die Grenze zwischen Abstraktion und Anschauung, sagte er einmal, wolle er immer wieder überschreiten. Eine Expedition, ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, aber immer lehrreich. Denn dieser Mikrokosmos-Bildner strebt ins Offene des Makrokosmos, verwandelt das ihm vors Auge kommende Material in den Inhalt einer Form. Früher nannte man Menschen wie ihn Mystiker, denn Goltzsche vergeistigt das bloß Sinnliche und fasst das Geistige mit den Sinnen auf. Diese ständig gegenläufige Bewegung schafft dann auch jene Bildspannung, die mich immer etwas in seinen Bildern suchen lässt.
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Was ist es, das Dieter Goltzsche bis heute so schöpferisch sein lässt? Schreibt er einen Brief oder auch nur eine Postkarte (E-Mails schickt er nicht), dann sind diese jedes Mal mit kleinen Skizzen oder launigen Kommentaren verziert. Ist der Brief schon zu, dann bietet der Umschlag noch Platz für letzte Meldungen, die immer etwas von Wasserständen und Tauchtiefen an sich haben, also nach einem fantasiebegabten Übersetzer rufen.
Woher kommt dieser Impuls, sich gleichzeitig mitzuteilen und in der Mitteilung wieder zu verbergen? Es ist wohl jene Transzendenz der schöpferischen Lust, die ihn immer aufs Neue dazu bringt, sich in einer Sprache auszudrücken, die keine Alltagssprache ist, sondern aus Linien, Kreisen, Dreiecken und leeren weißen Flächen besteht. Schwierig ist das nur auf den ersten Blick, dann wird es ganz einfach. Denn seine Bild-Komposition hat etwas von einem Zauberspruch. Plötzlich fügt sich all das bis eben Getrennte auf wundersame Weise zusammen.
Gewiss, es bleibt ein Spiel mit Formen, aber eben auch ein ernstes Ringen um Ausdruck von Grundfragen des Lebens. Der Kreislauf von Geburt und Tod, das Geheimnis von Werden und Vergehen: All das lässt den auf heitere Weise tragischen Philosophen mit Pinsel und Stift ausharren – vor einem leeren Blatt Papier, einem Stück Pappe, selten einer Leinwand.
Der Anfang hört in einer Künstlerbiografie nie auf, denn jedes neue Werk ist selbst wieder ein Anfang. Um es mit den Worten von Wolfgang Leber, einem Berliner Künstlerkollegen von Dieter Goltzsche zu sagen: »Ich kenne gegenwärtig niemanden, der erfindungsreicher ist. Ein Fabulierer aus dem Sächsischen hat in der eher kargen Berliner Kunstlandschaft seinen Widerpart gefunden.« Wie wird man als 1934 in Dresden geborener Maler und Grafiker zu einem Hauptvertreter der sogenannten Berliner Schule? Indem er sich seit Jahrzehnten dem eher harten Milieu Berlins entgegenstellt, und das mit der zurückhaltend-freundlichen Beharrlichkeit eines, der eigentlich nach Elbflorenz gehört.
Dass Goltzsche 1952 an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden zu studieren begann, war ein glückliches Pech. Pech, weil es schlechte Zeiten für die Bildende Kunst im Osten waren. Über allem, was vom reinen Naturalismus abwich, schwebte das Damoklesschwert des Formalismus-Vorwurfs, mit dem die sowjetische Ästhetik stalinistischer Prägung (Schdanow!) auch in der DDR gegen die Moderne als »spätbürgerliche Dekadenz« vorging.
Doch mit seinen Lehrern hatte er Glück: Hans Theo Richter und Max Schwimmer. Richter, nach den Worten von Goltzsche ein »Skulpteur auf dem Papier«, eine »Begabung von haushälterischer Art, Zuchtmeister der Zeichnung«. Ganz anders Max Schwimmer, der von Angelerntem wenig hielt, ein antiakademischer Gegenpol, französisch leicht, aus Freude am Schauen und Übersetzen des Geschauten in Linien, die zu schweben schienen. Ein Zeichner von Atmosphären, wie Goltzsche erinnert. Wie zeichnet man den Duft einer Rose? Manche Aufgabenstellung, der man sich früh stellt, bleibt eine Herausforderung für immer.
1958 wird Dieter Goltzsche Meisterschüler der Deutschen Akademie der Künste bei Max Schwimmer. Der Sachse in Berlin – das war keine einfache Annäherung, in mehrfacher Hinsicht. Denn in Berlin, als Meisterschüler an der Akademie, steht Goltzsche im Fokus der DDR-Kulturpolitik. Die wird zu dieser Zeit vor allem von Alfred Kurella repräsentiert und ist ihm nicht günstig. Produktionsszenen oder Bestarbeiter sucht man bei Goltzsche als Bildsujets vergeblich. Nicht weil sie ihn nicht interessiert hätten, sondern weil er eine andere Vorstellung von einem Kunstwerk hatte. Betrachtet man die frühen Arbeiten Goltzsches unter diesem Aspekt, erkennt man, wie da jemand in der Verweigerung einer politisch-ideologischen Vorgabe eine eigene Handschrift entwickelt.
Er findet den Mut zur geradezu eigenbrötlerischen Tristesse, die sich ihm im zerstörten Nachkriegsberlin aufdrängt. Er beginnt das Urbane naturgeschichtlich aufzufassen, so etwa in »Ostkreuz« von 1959. Wo enden die herabgefallenen Blätter der Bäume, beginnt der Stahl der Brückenkonstruktion? Im selben Jahr wird er als Meisterschüler der Akademie wieder entlassen. Auf zu renitente Weise hatte er sich den ideologischen Dogmen verweigert. Eine schwierige Situation für den 25-Jährigen, denn er verliert damit auch die Aufenthaltsgenehmigung für Berlin. Er bleibt jedoch da, auch ohne behördliche Erlaubnis – zieht 1960 ins ehemalige Fischerhaus Kietz 29 in Berlin Köpenick. Jetzt beginnt gleichsam seine maritime Berliner Existenz – im Zeichen seiner berühmten »Möwen im Wind«.
Wie bildet sich eine Künstlerbiografie? Vor allem durch die zu ertragende Dauer des Stillstands, aus der Wandlung erst nach und nach hervorgeht – doch die Oberhoheit über solch lösende Augenblicke hat nicht die drängende Ungeduld des Schaffenden, sondern das geheime Wissen um das Wahrhaftige, das jedem echten Ausdruck innewohnt. Dieses aber zeigt sich erst dann, wenn es dafür nach der inneren Uhr reif ist.
Zufällig sind Goltzsches Bildkompositionen nie. Manchmal aber findet er die Balance von Anschauung und Abstraktion erst im Augenblick ihres Entstehens. So werden Städte naturalisiert, gleichsam ans Meer verlegt und in Wald zurückverwandelt – und gleichzeitig bekommt die Natur etwas Künstliches, geradezu Technisches. Immer öfter nutzt Goltzsche dabei auch neue farbige Ausdrucksmöglichkeiten mittels Aquarell, Pastell oder Tempera. Die Farbe verjüngt den Maler sichtlich – schafft auch der abgründigen Fantasie neue Spielräume.
Die Dinge, die uns umgeben, sind nicht, was sie scheinen. Es bedarf immer des zweiten Blicks, auch des Gedankens, der diesen leitet. Das Geistige in der Kunst scheint heute selten geworden, bei Dieter Goltzsche aber ist es immer präsent. Ich kenne keinen bildenden Künstler, der so belesen ist wie er. Seine Bilder zur Literatur, die man nicht Illustrationen nennen sollte, sind ein eigener Kosmos, ein eigenes Thema. Das gedruckte Wort prägt stark seine Sicht auf die Welt.
In Goltzsches Malerdialog mit der Dichtung wird die Welt auf gefährliche Weise vertraut. Man kennt sie nun aus der Nähe, aber sie bleibt dennoch etwas, das sich der allzu familiären Ansprache brüsk verweigert und auf Distanz besteht. Und so versammeln sich seine Gefährten im Geiste dabei auf nah-ferne Weise: Garcia Lorca, Sarah Kirsch, Helga M. Novak, Jean Paul, Kleist, Becher und Brecht. Ein Malerbuch mit Versen Heinz Czechowskis steht mir vor Augen. Darin lese ich: »Das falsche Leben haben wir gelebt./ Nun ist das andere dran, die Tüchtigen/ Sind uns voraus. Die Erde bebt./ Wir leben jetzt gedankenarm im richtigen.«
In den dialektischen Zwischenräumen der Fantasie wachsen Goltzsches Bilder, die mehr sind als bloße Kommentare: Symbol gewordene Reflexion des Gesehenen.
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