»Ich spüre noch immer ein Schuldgefühl«

Die belgische Tageszeitung De Morgen zu einem Theaterstück über Klimaaktivisten

  • Barbara Debusschere
  • Lesedauer: 10 Min.
Klimaaktivismus – »Ich spüre noch immer ein Schuldgefühl«

Er kannte sie erst seit fünf Tagen, als sie bei dem Starkregen 2021 ums Leben kam. Der altgediente Klimaaktivist Nic Balthazar (60) hat zusammen mit Benjamin Van Bunderen Robberechts (17) die Theateraufführung »For Rosa« realisiert. Darin geht es darum, wie sich das anfühlt: die Liebe deines Lebens zu treffen und sie nicht retten zu können.

»Eigentlich habe ich keine Lust, die Geschichte von Rosa zu erzählen«, sagt Benjamin Van Bunderen Robberechts nach einem fast dreistündigen Gespräch über seine Freundin Rosa. »Ich habe auch meine Freunde nicht eingeladen, weil es mir schwerfällt, das mit ihnen zu teilen«, fährt der engagierte Teenager aus Dworp fort. »Mit Freunden, die Rosa nicht kannten, und mit meinen Eltern spreche ich auch kaum darüber.«

Aber seit fast drei Jahren teilst du diese Geschichte in Medien, mit Politikern, in Schulen und jetzt in dem multimedialen Monolog »Für Rosa«, der am Samstag im Theater Aan Zee Premiere hat und in dem der Schauspieler Felix Maesschalck dich darstellt?

Van Bunderen Robberechts lacht: »Ja. Das ist verrückt, nicht wahr? Ich finde es schmerzhaft, diese Geschichte zu erzählen, aber sie ist zu wichtig. Ich finde, so viele Menschen wie möglich sollten erfahren, was mit Rosa passiert ist. Es wird viel über den Klimawandel geredet, aber fast nie über die Menschen, die ihm zum Opfer fallen, wie Rosa. Ich möchte diesen Menschen ein Gesicht geben. Also erzähle ich diese Geschichte trotz allem. Auch Nic Balthazar.«

Nic Balthazar: »Ich habe Stunden damit verbracht, Benjamin zu befragen. Manchmal war das schwierig. Für das Stück wollte ich so viele persönliche Details wie möglich erfahren, aber gleichzeitig vermeiden, dass er in sein Trauma zurückfällt. Dieser Spagat ist uns gelungen, weil wir genug Vertrauen zueinander hatten. Manchmal sagte Benjamin: ›Darauf werde ich dir nicht antworten. Jetzt kommst du mir zu nahe.‹«

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Dieses Trauma begann mit einer dieser magischen Begegnungen, die man nur als Teenager erlebt. Es war der Sommer 2021, die Corona-Maßnahmen waren endlich gelockert worden und Benjamin, damals 14 Jahre alt, wollte unbedingt ins Ferienlager nach Marcourt in den Ardennen fahren.

Mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit erzählt Maesschalck von der dortigen Begegnung mit der 15-jährigen Deutsch-Dänin Rosa Reichel, die mit ihrer Familie in Brüssel lebte. »Sie war der wunderbarste Mensch, den ich je kennen gelernt habe«, sagt er. Eine bezaubernde Person mit rot gefärbtem Haar, die gerne Spaß hatte, viel lachte und auf die man sich immer verlassen konnte.

»Zwischen uns hat es sofort Klick gemacht, und die Aufführung zeigt perfekt, wie sich das angefühlt hat«, sagt Van Bunderen Robberechts. Es sind rührende Szenen über die gegenseitige Anziehungskraft von Teenagern in einem Ferienlager. Doch mitten in diesem unbeschwerten Moment der schönsten Teenagerjahre schlägt das Unglück zu.

Ungeahnte heftige Regenfälle und Überschwemmungen, die unser Land (Belgien, d.R.), Deutschland und die Niederlande heimgesucht haben, verwandeln den unscheinbaren Bach in der Nähe des Lagers in eine reißende Wassermasse. Reichel wird weggeschwemmt. Van Bunderen Robberechts springt ihr hinterher und schafft es, sie festzuhalten. Doch dann trifft sie eine riesige Welle und Reichel entgleitet seinen Armen. Drei Tage später wird ihr Körper leblos aufgefunden.

»Ich sitze immer noch mit einem Schuldgefühl da«, sagt Van Bunderen Robberechts. »Alle sagen, das sei unbegründet, aber das Gefühl ist trotzdem da.«

Nach Rosas Tod liegt er monatelang mit Depressionen im Bett. Er bricht die Schule ab und stürzt sich in die Klimathematik. »Ich war schon vorher ein Klimaaktivist«, sagt er. »Genau wie Rosa. Die Frage, was unserer Meinung nach getan werden sollte, um die Klimakrise zu bewältigen, war das zentrale Thema unseres Sommercamps. Wie schmerzhaft ist es, dass eine Klimaaktivistin durch eine Klimakatastrophe getötet wird?«

Er gründet schließlich die gemeinnützige Organisation »Climate Justice for Rosa« und entwickelt sich zu einem versierten Klimadiplomaten. Er spricht auf der UN-Klimakonferenz, berät sich mit nationalen und europäischen Politiker*innen und setzt sich dafür ein, dass der 15. Juli zum europäischen und belgischen Gedenktag für Klimaopfer erklärt wird. Er beteiligt sich auch an der Klage der Klimaopfer gegen TotalEnergies und ist Mitautor von »For Rosa«.

Woher kam die Idee, aus dieser Geschichte ein Theaterstück zu machen?

Balthazar: »Ich habe lange nach der perfekten Geschichte über die Klimakrise gesucht. Wir sind einfach zu dumme Affen, um die Gefahr richtig einzuschätzen. Die nackten Zahlen scheinen wenig Wirkung zu haben, egal wie erschreckend sie sind. Unser Gehirn ist dafür nicht ausgelegt, etwas so Gravierendes zu erfassen, das sich über einen längeren Zeitraum entwickelt. Deshalb muss man die Menschen auf andere Weise wach rütteln. Durch eine symbolische, ergreifende, persönliche Geschichte. Und diese Geschichte ist wirklich passiert und gehört zu der Art von Geschichten, die man sich selbst nicht ausdenken würde«.

Benjamin hat sie schon oft in den Medien erzählt. Wie kann eine Theateraufführung da noch etwas ergänzen?

Van Bunderen Robberechts: »Nic hat mich davon überzeugt, dass dies ein guter Weg ist, um Menschen zum Nachdenken über die Klimakrise zu bewegen. Ich möchte vor allem verhindern, dass noch mehr Menschen so etwas durchmachen müssen. Und ich denke, dieses Stück, in dem man Rosa kennenlernt, kann mehr bewirken als purer Aktivismus. Es geht nicht um Klimahysterie gegen Klima-Leugner, sondern um den Verlust eines geliebten Menschen durch diese brachiale Gewalt.«

Das Stück entwickelt sich von einer Teenager-Romanze bis zu Szenen über harte Klimafakten und den Zynismus bestimmter Politiker und Konzerne. Aber nur für einen kurzen Moment, am Ende. Musste der glühende Klimaaktivist Nic Balthazar dem Klimadiplomaten Benjamin Van Bunderen Robberechts nachgeben?

Balthazar: »Teilweise. Den Leuten eine Predigt aufzudrängen, ist natürlich eine schlechte Idee. Dann denken sie schnell: Da ist wieder der Balthasar mit seinem Klimaaktivismus, und steigen aus. Aber ich dachte zum Beispiel, dass wir uns auch um die Klimaopfer im Süden kümmern sollten, weil es dort so viele mehr sind. Es gibt Millionen von ihnen.
Denken Sie an die Menschen, die weltweit in aller Stille an der Hitze sterben, zum Beispiel in Marokko, wo es 47 Grad heiß ist. Wir hören nie etwas über sie, im Gegensatz zu den Opfern der Terroranschläge in Brüssel und Zaventem (im März 2016, d.R.), die überall in den Medien zu sehen waren.«

De Morgen

De Morgen ist eine niederländischsprachige belgische Tageszeitung, die in Brüssel erscheint. Sie wurde 1976 gegründet und entstand als Nachfolgerin der sozialistischen Parteizeitungen De Volksgazet und Vooruit. De Morgen vertritt linke bis sozialliberale Standpunkte. In seiner Geschichte musste das Blatt mehrfach von Lesern gerettet werden, bis es 1989 vom Verlag De Persgroep aufgekauft wurde. Die Zeitung setzt sich für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Menschenrechte ein. Sie kritisiert neoliberale Wirtschaftspolitik und betont die Notwendigkeit von sozialer Verantwortung und nachhaltigem Handeln.


Redaktionell legt De Morgen großen Wert auf investigativen Journalismus, tiefgehende Analysen und verschiedene Perspektiven. Die Auflage liegt bei etwa 50 000 Printexemplaren täglich.

Van Bunderen Robberechts: »Das ist etwas, auf das ich mich mit der gemeinnützigen Organisation ›Climate Justice for Rosa‹ stärker konzentrieren werde. Jeder muss diese Menschen kennen lernen. Aber in dieser Aufführung hielt ich es für besser, bei Rosa zu bleiben und die Geschichte nicht mit Klimaaktionen zu verbinden, wie Nic vorschlug, sondern nur mich und Rosa zu zeigen.«

Balthazar: »Darauf habe ich Rücksicht genommen.«

Van Bunderen Robberechts: »Ich wollte so wenig Zahlen wie möglich nennen und dem Publikum vor allem zeigen, dass hinter den Zahlen Menschen wie Rosa stehen.«

Balthazar: »Aber ich denke, diese Art von Geschichten sind auch eine Form von Aktivismus. Und je mehr ›Aktivist‹ zu einem Schimpfwort wird, desto mehr finde ich, dass ›Aktivist‹ zu einem fragwürdigen Begriff wird. In den Tagen der Sklaverei waren die Abolitionisten (Bewegung im 18. und 19. Jahrhundert zur Abschaffung der Sklaverei, d.R.) die meist gehassten Menschen, weil man durch ihre Forderungen die Wirtschaft gefährdet sah, da die Wirtschaft ja nicht ohne Sklaven auskommen könne. Es waren auch damals die Geschichten der Aktivisten, die uns zur Vernunft und zum Besseren bewegt haben.«

Van Bunderen Robberechts: »Ich bin selbst ein Aktivist. Dafür bin ich schon im Gefängnis gelandet. Aber mein Stil ist vielleicht diplomatischer als der von anderen Klimaaktivisten.«

Wie geht ihr mit der harschen Kritik von Klimaaktivisten um?

Van Bunderen Robberechts: »Seufz. Es ist kein Zufall, dass wir das in dem Stück erwähnen, denn ich wurde gleich nach meinem ersten Klimamarsch wegen Rosa beschimpft und das hält an. Was ich nicht ausstehen kann, sind bissige Kommentare über Rosa. Aber wenn ich beschimpft werde, kann ich das locker wegstecken.«

Du musstest also gar nicht viel von dem altgedienten Klimaaktivisten Nic Balthazar lernen?

Van Bunderen Robberechts: »Dank Nic habe ich zum ersten Mal vom Klimawandel erfahren. Ich war in der fünften Klasse und der Bürgermeister kam in einem Eisbärenkostüm in unsere Klasse und wir sangen alle bei Nics Aktion ›Sing for the Climate‹ mit.«

»Ich kann immer etwas von Nic lernen. Andere Klimaaktivisten, die schon lange aktiv sind, haben mir auch gesagt, dass man vor allem versuchen sollte, nicht zynisch zu werden. Das ist knifflig. Manche Politiker können mich zynisch machen, aber bisher nur für kurze Momente.«

Balthazar: »Das ist klug, denn es gibt so viel, worüber man sich ärgern kann. Ich war selbst in einem Tief, wegen der vielen Anschläge und der Feststellung, dass sich nichts ändert.«

Das stimmt aber nicht, oder? Es gibt einen Green Deal, und die schlimmsten Erwärmungsszenarien sind abgewendet worden.

Balthasar: »Richtig. Ich bin sehr dankbar, dass es den Green Deal gibt, und das, wohlgemerkt, ist größtenteils ein Verdienst von Klima-Jugendlichen wie Ben. Aber wir müssen noch viel mehr tun, um unter den vereinbarten Obergrenzen für die Klimaerwärmung zu bleiben. Die Klimakrise beschleunigt sich, während die Politiker auf die Pausentaste drücken. Ihre Botschaft an Bens Generation ist verheerend.«

Rechnet ihr mit dem Vorwurf, dass »Rosas Tod doch ein Unfall war« und »das Ergebnis von Missmanagement«?

Van Bunderen Robberechts: »Dann wiederhole ich, dass es zur gleichen Zeit 180 Tote in Deutschland und weitere 39 in unserem Land gab. Dass wir nicht an der Vesdre waren, sondern an der Ourthe, wo es keine Probleme mit einem Damm gab. Und dass Wissenschaftler erklären, dass diese Art von außergewöhnlichen Regenfällen in einer sich erwärmenden Welt häufiger vorkommt. Das ist wirklich nicht schwer zu verstehen.«

Aber es ist unbequem. Hat das Publikum, das sich »For Rosa« ansieht, eine Mitschuld an ihrem Tod?

Balthazar: »Diese Frage wird in der Aufführung aufgegriffen, und unsere Antwort ist nein. Wir sind jahrelang in diese Ecke gedrängt worden, vor allem von der fossilen Industrie. Es war British Petroleum, die das Konzept des Kohlenstoff-Fußabdrucks eingeführt hat. Am Ende sitzen dann alle da und schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Denn der eine ist mit dem Flugzeug geflogen, der andere hat zu lange geduscht und der Veganer hat eine Mango aus einem fernen Land gegessen. Wir müssen da schnellstens raus.«

»Die Scheinwerfer sollten nicht auf die Bürger gerichtet sein, sondern auf die großen Umweltverschmutzer und die Politiker, die ihnen keine Steine in den Weg legen. Die Bürger haben Rosa nicht getötet. Es waren die Shells und TotalEnergies dieser Welt. Sie haben seit Jahrzehnten erkannt, dass sie das Feuer schüren, aber durch ihre Lobbyarbeit schaffen sie es, weiterzumachen. Jetzt fahren sie sogar ihre Produktion hoch.«

Was wollt ihr mit dieser Aufführung in erster Linie erreichen?

Van Bunderen Robberechts: »Dass die Leute im Publikum selbst ein bisschen zum Aktivisten werden. Ich möchte vor allem, dass das, was Rosa passiert ist, nicht umsonst passiert ist und dass die Leute die Dringlichkeit des Problems begreifen, wenn sie sich auf den Heimweg machen. Aber ich möchte vermeiden, dass alle in Depressionen verfallen. Es ist eher ein Aufruf zum Handeln.«

Balthazar: »In diesem Stück geht es um den Mut der Verzweiflung. Selbst wenn alles verloren scheint, haben wir keine andere Möglichkeit, als uns weiter für all die klugen Lösungen einzusetzen, die unseren Planeten sicherer und gesünder machen können. Das ist es, was ich mit Felix vermitteln möchte.«

»Ich bin zufrieden, wenn die Leute sagen, dass sie geweint haben. (lacht) Mit Graphen und Wissenschaft berührt man die Leute nicht. Aber wenn das Publikum weinen oder lachen muss, und am besten beides, dann hat man Erfolg. Ich weiß, dass Ben das nicht so sieht. Es stimmt auch, dass man sein Publikum nicht zu Tode erschrecken sollte. Und mir gefällt, dass er sich in das Publikum einfühlt und es nicht schluchzend nach Hause schicken will.«

Van Bunderen Robberechts: »Das ist doch schlimm für diese Leute, oder?«

Balthazar: »Das können sie verkraften.«

Dieser Text ist am 3. August 2024 in De Morgen (Belgien) erschienen. Der Beitrag wurde von Jürgen Klute übersetzt, nachbearbeitet und gekürzt.

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