»Keine Freiheit ohne Verteidigung«

Foza Yûsif von der kurdischen Partei PYD spricht über die Lage in der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens

  • Interview: Ulrich Weber
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Kämpfer der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) lädt einen Munitionsgürtel in ein Maschinengewehr in einem Haus in der Nähe des Tischrin-Staudamms bei der Stadt Manbidsch in Nordsyrien.
Ein Kämpfer der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA) lädt einen Munitionsgürtel in ein Maschinengewehr in einem Haus in der Nähe des Tischrin-Staudamms bei der Stadt Manbidsch in Nordsyrien.

Die Demokratische Autonome Administration Nord- und Ostsyriens (DAANES) hat angekündigt, künftig die Fahne der syrischen Opposition zu verwenden. Was steckt hinter dieser Entscheidung?

Bei dieser Fahne handelt es sich nicht um die Fahne der Opposition. Die Fahne mit den drei roten Sternen war die syrische Fahne vor dem Baath-Regime. Zu dieser Zeit war Syrien demokratischer, weshalb sie nun auch die Autonome Administration verwenden wird.

Seit dem Beginn des Überraschungsangriffs der Dschihadistengruppen Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) und der protürkischen Syrischen Nationalen Armee (SNA) ist viel passiert. Die Umgestaltung des syrischen Staates ist im vollen Gange. Wie beurteilen Sie die Geschehnisse?

Diese Entwicklungen waren offensichtlich schon seit langer Zeit geplant und gehen auf Entscheidungen internationaler und regionaler Mächte zurück. HTS stand auf internationalen Terrorlisten. Trotzdem wurde nichts gegen HTS unternommen, so wie es beim Islamischen Staat (IS) der Fall war. Das Schweigen internationaler Mächte wie den USA und europäischer Staaten sowie der regionalen Mächte Israel und Türkei sprechen dafür, dass es Abkommen gegeben haben muss. Im Rahmen dieser Abkommen sollen die Pläne der jeweiligen Staaten in Syrien durchgesetzt werden.

Viele sehen im Sturz des Assad-Regimes eine Chance, Stabilität und Demokratie in Syrien herzustellen. Wie schätzen Sie das ein unter den neuen Machthabern

Der Sturz des Assad-Regimes ist eine gute Sache. Er bedeutet jedoch nicht, dass automatisch Frieden im Sinne von Demokratie und garantierten Freiheiten herrschen wird. HTS ist eine rassistische, islamistische und sexistische Organisation. Sie stellt daher insbesondere eine große Bedrohung für verschiedene Glaubensgemeinschaften und Frauen dar. Teile dieser Milizen greifen derzeit die Gebiete der Autonomen Administration an. Zudem gibt es Berichte von Enthauptungen und der Verschleppung von Frauen in der Region Şehba. Ebenso wurden Alewitinnen und Alewiten in Latakia umgebracht und deren Häuser geplündert.

Von der zukünftigen Präsenz US-amerikanischer Streitkräfte in Syrien scheint abzuhängen, inwieweit die Türkei und die mit ihr verbündeten Milizen die Angriffe auf den Nordosten Syriens ausweiten können. Welche Rolle spielen die USA derzeit in Syrien?

Es stimmt, dass die Türkei angreift und es derzeit im Kanton Kobanê zu Kämpfen kommt. Die USA sagen, dass sie wegen des IS in Syrien seien. Mit dieser Begründung wird die Türkei bloß dazu ermutigt, ihre Angriffe fortzusetzen. Die Haltung der USA muss also klarer werden. Die Türkei ist nämlich zu einem Zentrum für extremistische Kräfte geworden und das stellt eine große Bedrohung für alle Länder dar.

Am 3. Januar waren die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr französischer Amtskollege Jean-Noël Barrot zu Gesprächen in Damaskus. Weitere Länder bekunden ihre Absicht, Beziehungen mit den neuen Machthabern aufnehmen zu wollen. Was sagen Sie zu diesen Entwicklungen?

Ich bin davon überzeugt, dass der Erfolg von HTS auch den Weg für den Aufstieg anderer extremistischer Organisationen ebnen wird. Beispielsweise hat der IS seitdem seine Aktivitäten verstärkt. Wenn es keine Unterstützung für die demokratischen Kräfte in Syrien gibt, besteht die Gefahr, dass Syrien zu Afghanistan wird. Dies liegt auch nicht im Interesse Deutschlands. Unserer Ansicht nach ist es sehr wichtig, die Existenz der Autonomen Administration zu schützen, da sie eine demokratische Kraft in Syrien darstellt.

Außenministerin Baerbock sagte bezüglich eines möglichen türkischen Angriffes auf die Stadt Kobanê, dass diese ein Symbol für den mutigen Kampf der Kurdinnen und Kurden gegen den IS sei. Gleichzeitig forderte sie die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) auf, die Waffen niederzulegen. Steht unter diesen Voraussetzungen eine Integration der SDF in die syrische Armee zur Debatte?

Bisher betrachtete Europa, insbesondere Deutschland, die Kurden mit türkischen Augen, während die Türkei alle Kurden als Terroristen betrachtet. Die Türkei will nicht, dass dem kurdischen Volk Rechte zustehen. Die Kurden verteidigen die ganze Welt gegen den IS und gerade Kobanê ist ein Symbol des Widerstands gegen den IS. Die Umsetzung der deutschen Forderungen hätte zur Folge, die Kurden schutzlos zu lassen, bis sie vernichtet sind. Deutschland sollte sich dessen bewusst sein. Wenn die Rechte der Kurden, Drusen, Christen, Jesiden und Alewiten sowie die Rechte der Frauen in Syrien garantiert sind, dann könnte man argumentieren, dass sich die SDF mit der syrischen Armee vereinigen soll. Da wir aber in diesem Moment angegriffen werden, ist der Fortbestand der SDF sehr wichtig, damit wir uns schützen können. Ebenso haben die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) als Teil der SDF die Frauen in Nordostsyrien bisher geschützt und müssen so lange bestehen bleiben, bis Frauenrechte in Syrien garantiert sind. Freiheit kann nicht ohne Verteidigung existieren.

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