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Gaza-Krieg: »Alle Menschen sind schwer traumatisiert«
Reem Alrequeb, Leiterin von SOS-Kinderdörfer im Gazastreifen, über die Lage der Kinder
Frau Alrequeb, wo erreiche ich Sie?
In Chan Junis im südlichen Gazastreifen. Obwohl wir die genaue vorherige Position unseres SOS-Kinderdorfes in Rafah den israelischen Streitkräften gemeldet hatten, schlugen im letzten Mai Bomben in unmittelbarer Nähe davon ein. Die israelische Armee warf Flugblätter ab, dass die Gegend nicht mehr sicher sei und umgehend geräumt werden müsse. Wir sind deshalb nach Chan Junis geflüchtet. Dort leben von uns betreute Kinder, Jugendliche, ihre Familien, unsere Mitarbeiter und ich seitdem in Zelten und Wohnwagen in einem provisorischen Lager. Vor einigen Wochen schlugen auch auf diesem Gelände Raketenteile ein.
Die Waffenruhe trat am Sonntag in Kraft. Hält Sie?
Bislang ja. Ich muss mich zwingen, optimistisch zu bleiben. Wir haben in den vergangenen 15 Monaten so oft gehofft und wurden häufig enttäuscht.
Reem Alrequeb (36) ist die kommissarische Leiterin von SOS-Kinderdörfer im Gazastreifen. Die studierte Anglistin wurde in Chan Junis im Gazastreifen geboren. Nach Stationen bei lokalen und internationalen Hilfsorganisationen arbeitet sie seit drei Jahren für SOS-Kinderdörfer.
Mit Unterstützung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock wurden im März letzten Jahres 68 Kinder und elf Betreuer aus dem SOS-Kinderdorf in Rafah in jenes im sicheren Bethlehem gebracht. Warum blieben Sie im Gazastreifen zurück?
Acht unserer Kinder erhielten keine Genehmigung zur Ausreise. Ich wollte sie nicht im Stich lassen. Wir haben zudem sofort neue Kinder aufgenommen, deren Eltern während des schrecklichen Krieges getötet worden waren. Gleichzeitig versuchten wir Kinder, die im Chaos von Gewalt und Flucht von ihren Eltern getrennt worden waren, wieder mit ihren Familien zu vereinigen. Wir unterstützen mit derzeit 54 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Kinder und ihre Familien mit Lebensmitteln, Hilfsgütern, Medikamenten, Bargeldhilfen, improvisiertem Unterricht, spielerischen Aktivitäten und psychologische Erster Hilfe. Derzeit profitieren Tausende Kinder, Männer und Frauen von unseren Programmen.
Sind von Ihnen betreute Kinder während des Krieges verletzt oder getötet worden?
Gott sei Dank, wurde keines der in unserem Kinderdorf und in der provisorischen Unterkunft betreuten Kinder verletzt oder getötet. Auch von unserem Personal kam niemand um. Aber sehr viele Menschen, die wir anderweitig unterstützen, wurden versehrt oder starben.
Wollen Sie mit den Kindern aus den Zelten nun ins Kinderdorf nach Rafah zurückkehren?
Ja, so schnell wie möglich, aber das wird wohl noch lange dauern. Das SOS-Kinderdorf wurde komplett zerstört, obwohl die Anlage klar als humanitäre Zone gekennzeichnet war. Hätten wir das Dorf nicht evakuiert, wären wohl alle dort untergebrachten Kinder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getötet worden. Wir werden das Kinderdorf komplett neu aufbauen müssen. Bis dahin müssen wir alle noch sehr lange in Zelten ausharren.
Hat der Krieg die Kinder traumatisiert?
Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Nicht nur die Kinder, alle Menschen, die die letzten 15 Monate im Gazastreifen überlebt haben, sind schwer traumatisiert. Sie haben alle geliebte Menschen und fast alles, was sie hatten, verloren. Alle haben schreckliche Angst, Trauer und Wut erlebt. Sie mussten vor grausamen Bombardements fliehen. Und dann die ständige Angst vor dem Anruf, in dem wir erfahren, dass von uns betreute Kinder, Familienmitglieder oder Freunde getötet wurden. Die hat uns alle fertig gemacht.
Wie gehen Kinder mit diesen Traumatisierungen um?
Wir haben Kinder aufgenommen, die gesehen haben, wie ihre Eltern und Geschwister von Bomben zerfetzt wurden. Diese schrecklichen Erlebnisse haben einige von ihnen verstummen lassen. Sie haben kein Wort gesprochen, als wir sie aufgenommen haben. Aber wir haben Psychologinnen und Psychologen, die versuchen, diese Traumata zu behandeln. Wir haben viel Erfahrung mit traumatisierten Kindern und wissen daher, dass es wichtig ist, möglichst schnelle psychologische Erste Hilfe zu leisten. Unsere Fachleute haben schon viel erreicht. Die meisten verstummten Kinder sprechen mittlerweile wieder und haben wieder angefangen zu spielen.
Was brauchen die Kinder im Gazastreifen jetzt am dringendsten?
Essen, Trinken, medizinische Versorgung, Strom, Schulunterricht – sie brauchen alles. Aber am dringendsten benötigen sie vielleicht einen Abend, an dem sie ohne das Dröhnen der israelischen Drohnen und ohne die Angst einschlafen können, dass sie oder ihre Familien in der Nacht von einer Bombe getroffen werden.
Vorausgesetzt die Waffenruhe hält: Wird sich die katastrophale humanitäre Situation jetzt schnell verbessern?
Nein, die humanitäre Lage im Gazastreifen wird noch lange katastrophal bleiben. Auch wenn jetzt endlich mehr dringend benötigte Hilfsgüter nach Gaza kommen, wird es dauern, bis sich die Situation wirklich verbessert. Denn die gesamte Infrastruktur – Straßen, Wasser- und Stromversorgung, Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen – wurde während des Krieges zerstört. Es wird Jahre dauern, das alles wiederaufzubauen. Viele Menschen schlafen unter freiem Himmel, in Ruinen und Zelten. Wenn es kalt wird und regnet, werden ihre Schlafplätze oft überschwemmt. Die nach 15 Monaten Krieg ausgemergelten Menschen werden dann krank, und es gibt kaum medizinische Versorgung. Eine Erkältung kann in Gaza schnell zum Tod führen.
Wächst im zerstörten Gazastreifen jetzt eine verlorene Generation heran?
In unserem provisorischen Lager und an vielen anderen Orten findet bereits jetzt unter extrem schwierigen Bedingungen improvisierter Unterricht statt. Wir weigern uns zu akzeptieren, dass aus diesen unschuldigen Kindern eine verlorene Generation wird. Dafür haben wir während des Krieges jeden Tag hart gearbeitet und werden es weiter tun.
Tragen die Kinder von Gaza Hass in sich?
Wir versuchen, mit unserer Arbeit zu verhindern, dass eine Generation in Hass aufwächst. Wir wollen den Teufelskreis von Hass, Gewalt und Vergeltung mit einem positiven und konstruktiven Ansatz durchbrechen. Unser Ziel ist es, Kinder zu seelisch gesunden Menschen zu erziehen, die dazu beitragen können, den Gazastreifen wiederaufzubauen und zur Versöhnung beizutragen.
Sie haben während des Krieges selbst Familienmitglieder und Freunde verloren und unter Todesangst gelitten. Wie schaffen Sie es, für die Ihnen anvertrauten Kinder stark zu bleiben?
Es war meine Pflicht. Zusammenbrechen war keine Option. Ich wusste: wenn ich mich meiner Angst und der Trauer hingebe, werde ich nicht in der Lage sein, die Kinder zu retten und meine Arbeit zu tun. Ich weiß, dass gerade sehr viele Menschen davon abhängig sind, dass ich funktioniere. Also habe ich einfach immer weitergemacht. Am schlimmsten war es für mich immer, Menschen abzuweisen, denen wir mit unseren begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen nicht helfen konnten. Das war schrecklich.
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