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Generalstreik gegen Todesstrafe
Ziviler Widerstand hat in den kurdischen Gebieten des Iran eine lange Tradition
Ladenbesitzer und Geschäftsleute in den meisten Städten Ostkurdistans (West-Iran), beteiligten sich am Mittwoch (22. Januar) an einem eintägigen Generalstreik. Aufgerufen dazu hatten sechs kurdische politische Parteien, Organisationen und Menschenrechtsgruppen, um zwei zum Tode verurteilte kurdische politische Gefangene zu unterstützen: Vrische Moradi und Pakhshan Azizi. Die beiden Frauen sitzen derzeit in der Frauenabteilung des Evin-Gefängnisses in Teheran ein.
Pakhshan Azizi, eine Sozialarbeiterin, reiste nach dem Angriff des Islamischen Staates (IS) in das Selbstverwaltungsgebiet Rojava in Nordsyrien, um mit der Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond zu arbeiten. Nach ihrer Rückkehr in den Iran am 4. August 2023 wurde sie verhaftet und in einem übereilten Gerichtsverfahren im Juni 2024 wegen »bewaffneten Aufstands« zum Tode verurteilt. Sowohl das Berufungsgericht als auch der Oberste Gerichtshof bestätigten das Urteil.
Aburteilung im Schnellverfahren
Auch die Frauenrechtsaktivistin Vrishe Moradi schloss sich während des Aufstands in Kobanê dem zivilen Widerstand an. Nachdem sie verletzt worden war, ging sie nach Suleimanijeh in Südkurdistan im Norden Iraks. Nach ihrer Rückkehr in den Iran im August 2023 wurde sie am Eingang der Stadt Sanandadsch (kurdisch: Sine) verhaftet. Wie Pakhshan wurde auch sie im November 2024 in einem Schnellverfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht zum Tode verurteilt. Beide Verhaftungen und Verurteilungen fielen in die Hochphase der Protestbewegung »Jin, Jiyan, Azadi« (Frau-Leben-Freiheit) nach dem Tod der Kurdin Jina Mahsa Amini in iranischer Haft.
Der Generalstreik fand in ganz Kurdistan breite Unterstützung, auch in großen Städten wie Sanandadsch, Kermanshah, Mahabad und Saqqez, Jina Aminis Heimatstadt. Geschäfte und Basare wurden komplett geschlossen, Regierungsbüros blieben leer, während die Menschen ihre Unterstützung für Vrishe Moradi und Pakhshan Azizi demonstrierten.
Breite Unterstützung für den Streik
Darüber hinaus traten mindestens 35 Gefangene der Frauenabteilung des berüchtigten Evin-Gefängnisses in Teheran aus Solidarität mit dem Streik in Kurdistan in einen eintägigen Hungerstreik, bestätigte das Kurdistan Human Rights Network (KHRN).
Die Polizei hat Berichten von Aktivisten zufolge Dutzende von Geschäften entweder abgeriegelt oder für den Fall, dass der Streik weitergeht, zur Schließung markiert. Demnach haben Sicherheitsbeamte die Ladenbesitzer per Telefon oder Textnachricht gewarnt, dass ihre Geschäfte geschlossen würden, wenn sie den Streik fortsetzten.
Behörden gehen gegen Streikende vor
Wie die Website Kurdpa, eine Nachrichtenagentur über Kurdistan im Iran, meldete, wurden in den Tagen nach dem Generalstreik bis zum 27. Januar Dutzende Ladenbesitzer und Aktivisten allein in Sanandadsch vorgeladen und mindestens 13 Personen festgenommen.
Der Generalstreik vom Mittwoch ist nicht der erste seiner Art in Ostkurdistan. Der erste nennenswerte Generalstreik fand ein Jahr nach der Revolution von 1979 statt. Als die iranische Zentralregierung einen Angriff auf die Stadt Mariwan plante, rief der revolutionäre Stadtrat zu einem Generalstreik auf. Der Streik endete damit, dass die Zentralregierung auf die Forderungen der Bevölkerung einging.
Streiks haben lange Tradition
Bedeutsam war auch ein Generalstreik während der »Jin, Jian, Azadi«-Proteste: Nach der Beerdigung von Jina Mahsa Amini riefen die kurdischen politischen Parteien für den Folgetag zu einem Generalstreik auf. Dieser Streik erhielt massive Unterstützung und verwandelte die Proteste von einem lokalen Ereignis in eine landesweite Bewegung.
Die Hinwendung der Kurden zu alternativen politischen Strategien wie »politischen Märschen« und »politischen Generalstreiks« ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: erstens auf die systematische Beschneidung politischer Partizipationsmöglichkeiten und zweitens auf die politische Überzeugung, dass jede Person sich aktiv an der Veränderung und Gestaltung ihres eigenen Schicksals beteiligen soll. Nur wenige politische Strategien sind so wirksam in der Mobilisierung großer Teile der Gesellschaft wie der Generalstreik. In dieser Hinsicht standen politische Protestmärsche und politische Generalstreiks in krassem Gegensatz zu den auferlegten Rahmenbedingungen der bürgerlichen Demokratie wie etwa Wahlen.
Strategien des zivilen Widerstands
Darüber hinaus stellt der Generalstreik eine Wiederbelebung legitimer Gewalt im politisch-theologischen Sinne dar, die vom autoritären Staat vereinnahmt wurde. Nur so können die Marginalisierten, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, eine derart legitime Macht erlangen, dass ein Teil dieses tyrannischen Systems – in diesem konkreten Fall – aus Angst sogar dazu gezwungen sein wird, den Vollzug der Todesstrafe gegen Pakhshan Azizi auszusetzen, selbst wenn es sich nur um einen symbolischen Stopp handelt.
Diese in der kurdischen Gesellschaft verwurzelten Traditionen gedeihen dank des Fortbestehens alternativer demokratischer Institutionen, dynamischer ziviler Organisationen (einschließlich politischer Parteien) und einer widerstandsfähigen Zivilgesellschaft. Während ein Großteil der iranischen Gesellschaft jahrelang an Wahlen und sogenannten Reformen festhielt, entwickelte die kurdische Gesellschaft alternative Strategien des zivilen Widerstands, die es ihr ermöglichen, diese Traditionen in kritischen Momenten wieder aufleben zu lassen.
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