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»Sie nannten ihn Winnetou«
Im Juni kann sie ihren 100. Geburtstag feiern – eine wahrhafte Jahrhundertzeugin: Marga Simon
Ich bin in Chemnitz am 17. Juni 1925 geboren worden. Ich bin die zweite Tochter von Ernst Enge und Gertrud, geborene Arnold. Mein Elternhaus war voller Harmonie und Wärme, auch wenn es widersprüchliche Meinungen gab, waren Liebe und Achtung geboten. Mein Vater ist durch den Ersten Weltkrieg politisiert worden, er war zur Infanterie einberufen, in Frankreich im Einsatz. In einem Brief an seine Schwester Minna schrieb er schon im Oktober 1915: »Wir sind alle so sehr kriegsmüde, dass man es gar nicht begreift, warum es so weiter geht. Wohl auch den meisten Franzosen wird es eben so gehen, denn sie laufen sehr oft über. Wenn die Herren Kriegsmacher mal einen Tag in den Graben steckten, würden sie vielleicht bald Frieden schließen.«
Nach dem Krieg, im November 1918, ging er in den Soldatenrat von Frankenberg, eine Kleinstadt in Sachsen, nahe Chemnitz. Sein Freund, ein Rechtsanwalt, brachte ihn dazu. In dieser Zeit fand er Kontakte zur Kommunistischen Partei und trat ihr bei, weil er seine Ansichten eher vertreten sah als in der SPD, der er bisher angehört hatte. Er war auch in der RGO, der Revolutionären Gewerkschaftsopposition der Kommunisten. Da war er Hauptkassierer. Er war sehr aktiv und sehr beliebt. Die jungen Leute nannten ihn bewundernd Winnetou.
Es ging bei uns in der Familie aber nicht immer um Politik. Es gab Musiknachmittage, Vater spielte Zitter und Mutter Schifferklavier. Freunde kamen hinzu, die auch musizierten. Und wir Kinder haben gesungen. Kultur spielte immer eine große Rolle bei uns. Ich war auch im Kirchenchor.
Als dann die Nazis an der Macht waren, wurde meiner Mutter das »Mutterkreuz« angeboten, weil sie vier Kinder geboren hatte. Für meine Eltern stand die Frage: Nehmen wir das an oder nicht? Sie haben es angenommen, doch dann kam es in den Aschekasten, denn es war mit einer Politik verbunden, die sie ablehnten.
Die erste Verhaftung
Mein Vater ist als aktiver Gewerkschafter und Kommunist schon vor den Nazis verhaftet worden. Die Nazis haben ihn dann erstmals im Juni 1933 verhaftet und bei uns auch eine Haussuchung gemacht und die gesamte Korrespondenz mit seinem jüdischen Freund, ein Kaufmann, der mit seiner Familie nach England emigriert ist, mitgenommen. Meine Mutter hatte immer einen Nervenzusammenbruch, wenn Vater verhaftet wurde. Darum ging Onkel Walter mit, ihr Bruder, als wir Vater im Gefängnis auf dem Kaßberg in Chemnitz besuchen wollten. Der ganze Hof war voll Leute, die ihre verhafteten Angehörigen besuchen wollten. Wir wurden weggejagt.
Vater wurde dann nach Dresden gebracht, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Er wurde zu zwei Jahren und fünf Monaten Zuchthaus verurteilt und fünf Jahren Ehrenrechtsverluste und ins Zuchthaus Waldheim eingewiesen. Das war sehr traurig. Wir konnten ihn dann alle acht Wochen besuchen. Er war sehr mutig, aber auch sehr traurig, weil er seiner Familie nicht beistehen konnte.
Als mein Vater dann 1935 entlassen wurde, hatte er wieder Verbindung zu seinem antifaschistischen Kreis aufgenommen und wurde mit Kriegsbeginn vier Jahre später erneut verhaftet. Da war gerade meine Schwester Ursel geboren worden, Mutter lag im Wochenbett. Und da bin ich allein zur Gestapo gegangen und habe sogar eine Besuchserlaubnis erhalten, konnte ihm etwas Geld und einige Sachen bringen. Nach sechs Wochen wurde er entlassen.
Dann wurde er zum Kriegsdienst verpflichtet. Ab 1940 gab es viele Zwangsarbeiter. Er hat mit seinen Genossen zu ihnen Kontakt aufgenommen. Von seinem Freund bekam er zu dieser Zeit ein Radio, vorher hatten wir kein Radio. Vater hörte Moskau und London. In seiner Firma, in der Verwaltung, arbeiteten zwei junge Leute, die Geschwister Hilde und Lotte Otto. Mit ihnen hat er die Informationen aus dem Radio verarbeiteten sie auf Flugblättern verbreitet. Und mit ihnen hat er sogar im Zeisigwald ein illegales Waffenlager angelegt. Für den Tag, wo man vielleicht mit der Waffe in der Hand Hitler stürzen könnte. Es gelang ihm jedenfalls Mitstreiter in zahlreichen Betrieben in Chemnitz zu gewinnen und ein illegales Netzwerk aufzubauen, zu dem 28 lokale Gruppen gehörten. Auch Fremd- und Zwangsarbeiter waren dabei. Seine Organisation hatte Verbindungen ins Umland, ins Erzgebirge und bis nach Leipzig und sogar Berlin.
Im September 1944 habe ich vor unserem Grundstück zwei fremde Männer bemerkt, das kam mir komisch vor. Ich sagte zu meiner Mutter: »Du Muttel, das kommt mir komisch vor, da stehen zwei fremde Herren dort.« Vater war wieder im Zeisigwald. Mutter sagte: »Geh da mal runter und guck nur mal, was da los ist!« Und da bin ich runter und hörte, wie der eine sagte: »Es is um zehne, um zehne kommt der immer zurück.« Also wurden wir schon seit Wochen beobachtet. Also Vater wurde beobachtet. Das habe ich dann meiner Mutter gesagt. Jetzt kam mein Vater. Und das sagte ich auch ihm: »Papa, da drüben stehen zwei Herren ...« Da wurde er kreidebleich und sagte: »Muttel, ich muss weg, ich muss in die Illegalität gehen.« Aber wie aus dem Haus kommen?
Meine Schwester Ruth war damals schon verheiratet, hatte eine eigene Wohnung. Und da haben wir uns gesagt, wir gehen alle zu ihr. Wir hofften auf die Öffentlichkeit, dass sie nicht die ganze Familie mit fünf Kindern verhaften können. Das gelang. Und mein Vater ist dann von dort geflüchtet. Mit mir hat er vorher ausgemacht: »Marga, wir treffen uns alle zwei Tage an der Hausen-Straße, um acht abends, und du berichtest, wie die Situation ist.« Das habe ich getan. Ich habe für ihn die Kontakte zu seinen Genossen und den Zwangsarbeitern so gut wie möglich aufrechtzuerhalten versucht. Mein Vater war so mutig. Da musste ich auch mutig sein.
Dann kam für Vater eine Karte mit der Einberufung zur Wehrmacht. Ich bin zum Wehrkreiskommando gegangen, habe gesagt, dass wir nicht wissen, wo der Vater ist.
Kreuzverhör bei der Gestapo
Wir hatten kein Geld. Ich musste zum Amt, für uns Sozialfürsorge beantragen. Ich habe auch den Beamten gesagt, dass Vater vermisst ist und wir nicht wissen, wo er ist. Da kamen zwei Männer von der Gestapo und haben mich verhaftet. Sie haben mich zur Gestapozentrale auf den Kaßberg gebracht und verhört. Sie drohten mir, wenn ich nicht aussage, wo mein Vater ist, werde ich eingewiesen. Ich habe nichts gesagt. Und dann wurde ich in eine Zelle gesperrt. Nach drei Stunden haben sie mich geholt, zum Kreuzverhör. Ich habe wieder nichts gesagt und kam ins Gefängnis in der Hartmann-Straße. Da waren nicht nur »Politische«, da wurde alles verhaftet, zapzarap, auch Frauen aus dem Sexmillieu.
Ich war damals verlobt und mein Mann wollte auf Heiratsurlaub kommen. Er kam und ich war verhaftet. Und da ist er jeden Tag mit seiner Mutter zur Gestapo, um mich frei zu kriegen. Tagelang ist da nichts passiert, bis er eines Tages den Beamten versicherte, er würde mich mit nach Liegnitz nehmen, wo seine Einheit stationiert war; er war bei der Luftwaffe. Da kam dann Bewegung in die Sache und ich wurde entlassen.
Wir haben in Chemnitz geheiratet. Kirchliche Trauung. In Liegnitz habe ich möbliert gewohnt. Und an einem Tag im Oktober kam einer in Zivil, sicher auch Gestapo, und hat mir die Nachricht vom Tod meines Vaters überbracht. Ich erfuhr später, dass sich Vater mit der Waffe verteidigen wollte. Das ist ihm nicht gelungen. Man hat damals einen großen Teil des Chemnitzer Widerstandes verhaftet, zirka 40 Personen. Mein Onkel ist auch verhaftet worden, er war schwer herzkrank und haben sie ihn dann eines Tages tot in seiner Zelle gefunden, angeblich ein natürlicher Tod. Und mein Vater soll sich erhängt haben. Am Fensterkreuz seiner Zelle. Wir haben das nicht geglaubt. Vermutlich wurde er von der Gestapo erdrosselt.
Ich bin jedenfalls dann von Liegnitz nach Chemnitz zurückgefahren, der Krieg ging zu Ende. Und nach der Befreiung vom Faschismus gab es viel zu tun, nicht nur die Trümmer in den Städten, sondern auch in den Köpfen zu beseitigen. Meine Mutter erkrankte schwer und starb bald. Sie hat den Verlust des Vaters nicht verkraftet. Es war eine schlimme Zeit.
Ernst Enge kam am 17. Oktober 1944 unter ungeklärten Umständen in Haft zu Tode. Seine Widerstandsgruppe hatte Kontakt bis nach Berlin, so zur Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation. An ihn erinnert in Chemnitz ein Stolperstein sowie ein Gedenkstein in einer Grundschule, die bis 1990 seinen Namen trug. Seine Tochter Marga hat im Gesundheitswesen der DDR gearbeitet. Sie ist Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und teilt ihr Wissen um die Naziverbrechen als Mahnung gern der jungen Generation mit.
Enrico Hilbert hat mit der Veteranin einen Gesprächsband veröffentlicht: »Der Winnetou von Gablenz. Leben, Kampf und Tod des Ernst Enge« (124 S., zu beziehen gegen eine Spende von 20 € bei VVN Chemnitz, vvnbdac@gmail.com).
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