Deutsche Bahn: Am Limit

Die Bahn ist ein Sanierungsfall. Doch alleine mit dem Verlegen neuer Gleise kommt der Konzern nicht wieder in die Spur

  • Martin Reischke
  • Lesedauer: 8 Min.
Ungefähr zwei Kilometer Strecke haben die Gleisbaumaschinen auf der Riedbahn in Südhessen am Tag erneuert. In den kommenden Jahren werden weitere Generalsanierungen auf Hunderten von Kilometern folgen.
Ungefähr zwei Kilometer Strecke haben die Gleisbaumaschinen auf der Riedbahn in Südhessen am Tag erneuert. In den kommenden Jahren werden weitere Generalsanierungen auf Hunderten von Kilometern folgen.

Wenn es um den Zustand des deutschen Schienennetzes geht, dann kann Matthias Gastel aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Rund hundertmal pro Jahr ist der Bundestagsabgeordnete der Grünen selbst im Fernverkehr der Bahn unterwegs, meistens zwischen der Hauptstadt und seinem Wahlkreis in Nürtingen bei Stuttgart. Über seine Erlebnisse führt er seit 2013 ein öffentliches Tagebuch. Dort notiert Gastel die Pünktlichkeit der Züge genauso wie das Angebot im Bordbistro und besonders amüsante Durchsagen. Eine seiner Beobachtungen lautet: Die Zahl der Fahrgäste habe mit den Jahren deutlich zugenommen – die der Verspätungen aber auch. »In die deutsche Infrastruktur der Schiene ist über Jahrzehnte zu wenig investiert worden«, sagt der Verkehrspolitiker. »Man merkt es jetzt an den unpünktlichen Zügen, an der hohen Unzuverlässigkeit und an den begrenzten Kapazitäten, die zur Verfügung stehen.«

Mit anderen Worten: Das Schienennetz ist voll, vor allem auf den wichtigsten Routen des Landes. Deshalb hatte die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP vor ihrem Bruch verschiedene Maßnahmen ergriffen: Zum Beispiel wurde vor einem Jahr das Eisenbahn-Infrastrukturunternehmen Infrago gegründet, das sich um den Erhalt und Ausbau des deutschen Schienennetzes kümmern soll. Der Sparzwang in der Vergangenheit hat die Deutsche Bahn erst ins Chaos getrieben: Um kurzfristig Kosten zu senken und die eigene Bilanz für den ursprünglich geplanten Börsengang zu verbessern, baute der Konzern jahrelang Infrastruktur wie etwa Abstellgleise oder Weichen ab, die für den laufenden Betrieb nicht zwingend notwendig schienen. Heute zeigt sich, dass das ein Fehler war – der Abbau führte zu Kapazitätsengpässen. Deshalb ist die neue Gesellschaft, in der auch Gastel im Aufsichtsrat sitzt, dem Gemeinwohl verpflichtet. So soll sichergestellt werden, dass Infrastruktur erhalten und neu gebaut wird.

Außerdem hatte die Ampel-Koalition allein 2024 rund 17 Milliarden Euro eingeplant, um das Schienennetz zu verbessern. Damit hat sich der Etat für die Schiene im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2023 fast verdoppelt. Das sei auch dringend nötig, findet Gastel. »Wir haben 41 hoch belastete und marode Bahnstrecken identifiziert, und die werden bis zum Jahr 2030 der Reihe nach saniert.«

Als erste Maßnahme stand die Erneuerung der Riedbahn in Südhessen an. Dort war Martin Flatz als Bauleiter der österreichischen Firma Swietelsky für die Großmaschinen zuständig. Zu normalen Zeiten rattern Güter- und Personenzüge in enger Taktung über die 70 Kilometer lange Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim, jeder siebte Zug im Fernverkehr der Deutschen Bahn nutzt diese Trasse. Aber von Mitte Juli bis Mitte Dezember 2024 ruhte der Verkehr auf der zweigleisigen Strecke. Schotter, Schwellen und Schienen waren in die Jahre gekommen und abgenutzt, alte Weichen mussten ausgetauscht, Oberleitungen erneuert werden. »Generalsanierung« ist das Zauberwort, mit dem Bund und Bahn das deutsche Schienennetz wieder instand setzen wollen.

Ich besuchte Flatz bei den Arbeiten. Mit der Hand zeigte er auf einen gelben Stahlkoloss, der sich auf den Gleisen langsam vorwärts arbeitete. »Das ist die RU800S, das RU steht für Reinigung und Umbau«, sagte der Bauleiter. Zusammen mit Schotter- und Schwellenwagen ist eine solche Maschine knapp 900 Meter lang. Der Umbauzug ist mit mobilen Kränen bestückt, sogenannten Portalkränen. Außerdem hat er Betonschwellen geladen. Die neuen Schwellen werden von den Kränen dahin transportiert, wo sie ins Gleisbett gesetzt werden. Wie fleißige Insekten surren die Kräne über die Wagen. Die alten Schwellen und Schienen hat die Maschine vorher entfernt. Der Umbauzug reinigt zudem den alten Schotter, denn durch den permanenten Zugverkehr werden die Steine im Schotterbett mit der Zeit zermahlen. »Das ganze feine Material sickert dann runter und wenn es regnet, kann das Gleisbett nicht mehr richtig entwässert werden«, erklärte Flatz. »Deswegen muss das feine Material wieder raus, damit das Wasser abfließen kann durch den Schotter.« Fast alles in diesem Prozess läuft automatisiert – auch die Montage der neuen Schienen. In einer Zehn-Stunden-Schicht verbaute die Maschine 3400 Schwellen auf der Riedbahn, das macht 2040 Meter neues Gleis.

»Wir haben 41 hoch belastete und marode Bahnstrecken identifiziert, und die werden bis zum Jahr 2030 der Reihe nach saniert.«

Matthias Gastel Verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag

Zwei Kilometer Gleis am Tag – das ist auch für solch eine riesige Maschine wie die RU800S eine enorme Leistung. Im Verhältnis zum gesamten deutschen Schienennetz aber ist es eine winzige Strecke. Das hat eine Länge von rund 39 000 Kilometern und ist damit immer noch ziemlich dicht. Aber über Jahrzehnte schrumpfte das Netz kontinuierlich. »Das ist eine wirkliche Sonderentwicklung«, sagt Andreas Geißler vom Verband Allianz pro Schiene. »Alle Verkehrsnetze in Deutschland sind in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Nur das Eisenbahnnetz ist geschrumpft, und das ist aus unserer Sicht eine massive Fehlentwicklung gewesen.« Gegenüber anderen Verkehrsträgern, allen voran der Straße, ist die Schiene ins Hintertreffen geraten. Zwar hat der Zugverkehr in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten deutlich zugenommen, doch das Netz ist nicht mitgewachsen. Deshalb brauche man nicht nur die rasche Sanierung, sondern auch den Neubau von Gleisen.

An der grundsätzlichen Art des Gleisbaus hat sich seit der Erfindung der Eisenbahn wenig geändert. Auf den fest planierten Untergrund wird Schotter aufgetragen, Schwellen werden verlegt und Schienen verschraubt. »Man macht den Fahrweg und stellt anschließend die Masten für die Oberleitung auf«, erklärt Geißler. »Am Schluss installiert man dann an den Masten die Fahrleitung.« Das klingt nach Standardfertigung, ist es aber nicht. Hinzu kommen zum Beispiel noch Signale und Sicherungstechnik für die Lokführer. Und spätestens da wird es kompliziert. Üblich sind heute Lichtsignale, die dem Lokführer anzeigen, ob er halten muss oder fahren darf. Doch auf Neubaustrecken fehlen diese Signale. Denn diese Strecken werden mit einem neuen Zugsicherungssystem ausgestattet, das eines Tages europaweit einheitlich werden soll. Das European Train Control System, kurz ETCS, funktioniert digital – mit sogenannten Balisen. Die kleinen Kästen, die direkt im Gleis installiert sind, senden dem Lokführer das virtuelle Signal direkt in den Führerstand.

Die Zukunft der Leit- und Sicherungstechnik ist also digital, aber noch gleicht das deutsche Schienennetz einem Flickenteppich aus neuen ETCS-Anlagen und alten Systemen. Teilweise sind Strecken mit beidem ausgestattet – und das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben. »Es ist ja nicht damit getan, dass dieses neue System an der Strecke installiert ist, damit man es nutzen kann«, sagt Geißler. »Dafür müssen auch die Fahrzeuge entsprechend ausgerüstet sein.« Das ist allerdings flächendeckend noch längst nicht der Fall. Bisher sind im Personenverkehr vor allem Hochgeschwindigkeitszüge mit der neuen Technik ausgerüstet.

Einen ähnlichen Flickenteppich gibt es bei den Stellwerken – auch hier sind neben der modernen elektronischen Variante immer noch viele mechanische Stellwerke in Betrieb. Und wenn die Harmonisierung der Leit- und Sicherungstechnik schon im deutschen Schienennetz nicht einfach ist, wird sie im grenzüberschreitenden Verkehr zu einer noch größeren Herausforderung: Denn weil die nationalen Systeme unterschiedlich sind, ist ein grenzüberschreitender Verkehr mit ein- und derselben Lokomotive in der Regel gar nicht möglich. Die Umstellung in Europa wird voraussichtlich noch viele Jahre dauern.

Dann gibt es noch ein weiteres Problem: Auch die Stromspannung in den Oberleitungen ist von Land zu Land unterschiedlich. »Wenn man grenzüberschreitend fahren will, muss man entweder die Lokomotive an der Grenze wechseln und ein neues Fahrzeug einsetzen, was mit dem neuen Stromsystem zurechtkommt«, sagt Geißler. »Oder man braucht sehr aufwändige Fahrzeuge, die mit verschiedenen Stromsystemen klarkommen.«

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Allein mit dem Verlegen neuer Gleise ist der Ausbau der Schiene also nicht getan. »Wir brauchen Elektrifizierung, wir brauchen Digitalisierung, wir brauchen zusätzliche Gleise, und wir brauchen auch Neubaustrecken, weil man massiv überlastete Schienenwege nicht mit zusätzlichen Weichen auf eine gute Betriebsqualität bringen kann«, sagt auch Gastel. Doch gerade für den Ausbau des Netzes gibt es bisher keine langfristige Finanzierung. Zahlreiche Verkehrsexperten fordern daher den Aufbau mehrjähriger Fonds nach dem Vorbild der Schweiz, damit langfristige Infrastrukturvorhaben sicher finanziert sind – unabhängig davon, welche Parteien gerade die Regierung stellen. Ein Vorschlag, der auch bei den Unionsparteien im Bundestag nicht grundsätzlich auf Ablehnung stößt. »Ein Investitionsfonds hat durchaus einen gewissen Charme«, sagt Thomas Bareiß, der verkehrspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. »Das muss meiner Meinung nach zu Beginn der kommenden Legislaturperiode ergebnisoffen diskutiert werden.«

Für Gastel liegen die Vorteile eines solchen Infrastrukturfonds auf der Hand: »Man weiß dann schon heute, wie viel Geld in drei, vier, fünf oder sogar sechs Jahren bereitsteht.« Überdies führe ein solcher Fonds dazu, »dass die Deutsche Bahn mittelfristig ihre Planungskapazitäten aufstocken kann, statt sie teuer einkaufen zu müssen.« Bislang geschieht die Sanierung Schritt für Schritt. Die Riedbahn ist planmäßig Mitte Dezember fertig geworden. Und für die weitere Instandsetzung des Netzes – im Sommer soll etwa die Generalsanierung der Strecke Berlin-Hamburg beginnen – hat der Bundestag noch im Dezember vergangenen Jahres knapp drei Milliarden freigegeben. Wie es danach weitergeht, wird die neue Bundesregierung entscheiden. Die dringend nötige Modernisierung der deutschen Schienen-Infrastruktur – sie könnte sich noch weiter verzögern.

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