Industrie in Ostdeutschland: Die Furcht vor dem Fadenriss

Die ostdeutsche Textilindustrie sorgt sich nach erfolgreichem Neustart um ihre Zukunft

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Umstellung auf technische Textilien war für die ostdeutsche Branche entscheidend.
Die Umstellung auf technische Textilien war für die ostdeutsche Branche entscheidend.

Der Stützstrumpf ist ein Modeartikel geworden. Genauso wie Bandagen für Knie oder Ellbogen »trägt man den jetzt nicht mehr im Verborgenen«, sagt Nico Teutsch. Das Unternehmen, dessen Geschäftsführer er ist, trägt maßgeblich dazu bei, dass die medizinischen Hilfsmittel vorzeigbar geworden sind. Bei der Otex GmbH im sächsischen Flöha werden hauchdünne Fasern aus Polyamid nicht nur flauschig aufgebauscht, sondern auch in Hunderten verschiedenen Farbtönen eingefärbt: strahlendes Gelb, erfrischendes Grün, leuchtendes Blau. »Diese Saison ist Purple besonders gefragt«, sagt Teutsch. Doch auch Kunden, die es weiterhin dezent mögen, kann er zufriedenstellen: Es gibt auch Garn im Farbton »Haut«.

Die knallbunten Farben bei Otex verbreiten gute Laune. Um die Situation der Branche insgesamt zu beschreiben, würde Jenz Otto indes vermutlich eher zu tiefschwarzen Fasern greifen. Er ist Geschäftsführer des Verbands der Nord-Ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (VTI), in dem exakt 101 Unternehmen mit gut 7000 Beschäftigten organisiert sind. Die Zahl der Firmen sinkt indes: 2023 habe es drei Insolvenzen gegeben, 2024 waren es sechs. »So etwas kannte ich aus den Jahren davor nicht«, sagt Otto und räumt unumwunden ein: »Die Prognose ist besorgniserregend.«

»Insolvenzen kannte ich aus den Jahren davor nicht.«

Jenz Otto VTI-Geschäftsführer

Die Textil- und Bekleidungsindustrie war in Ostdeutschland einst eine bestimmende Branche mit rund 300 000 Beschäftigten. Der Umbruch mit dem Ende der DDR und die zeitgleich einsetzende Globalisierung setzten ihr arg zu. T-Shirts und Blusen, Röcke und Hosen werden inzwischen vorwiegend in Asien genäht. In Ostdeutschland werden noch drei Prozent der Umsätze mit Bekleidung erwirtschaftet.

Dass die Branche in Ostdeutschland überhaupt noch eine nennenswerte Rolle spielt, verdankt sie der erfolgreichen Umstellung auf sogenannte technische Textilien. Das Spektrum reicht von Beton, der mit Fasern verstärkt wird, über Sitzbezüge für die Automobilindustrie und gewebte Herzklappen bis zu Snowboards mit Textilanteil. Der Bereich ist für 97 Prozent der Umsätze in der Branche verantwortlich. Selbst die wenigen verbliebenen Bekleidungshersteller setzen oft auf sehr spezielle Produkte: feuerfeste Anzüge für die Feuerwehr, schusssichere Westen oder Socken, die Zecken abwehren. »Eigentlich wäre das ein Medizinprodukt«, sagt Thomas Lindner, Geschäftsführer der Strumpfwerke Lindner in Hohenstein-Ernstthal, die diese entwickelten. »Allerdings war das Zulassungsverfahren viel zu kompliziert, um sie als solches verkaufen zu dürfen.«

Womit man beim Thema wäre. Denn bürokratische Hürden und überbordende Berichtspflichten seien ein enormes Problem für die Branche, sagt Lindner, der Vorstandschef im VTI und Vizepräsident des bundesweiten Gesamtverbands Textil und Mode ist. Den größtenteils mittelständisch strukturierten Betrieben fehlten die Kapazitäten, um etwa die Pflichten des Lieferkettengesetzes zu erfüllen. Davon seien kleine Firmen zwar formal befreit, müssten ihnen aber nachkommen, wenn sie große Kunden beliefern. »Wir füllen die Papiere aus, aber oft mit schlechtem Gewissen«, sagt Lindner. Zudem verweist er auf die Pflichten aus der Chemikalienverordnung und die hohen Strompreise, die für die energieintensiven Textilbetriebe ein Problem seien. Nicht wenige dächten darüber nach, die Produktion ganz oder in Teilen ins Ausland zu verlagern. Lindner appelliert an die Politik, Maßnahmen zu ergreifen, um das zu vermeiden. Zu den Stärken der Branche in Ostdeutschland gehöre schließlich, »dass wir nahezu die komplette textile Lieferkette noch in der Region haben«. Das gelte es zu bewahren.

Lindner spricht aus eigener Erfahrung. Er gehört zu den Abnehmern der feinen Fasern, die eine halbe Fahrstunde von seinem Strumpfbetrieb entfernt bei Otex in Flöha hergestellt werden – in einem Unternehmen, das mit dem Fachkräftemangel ein anderes Problem der Branche vorbildlich bewältigt. Zum einen arbeite man eng mit Schulen zusammen und biete Praktika und Ferienjobs, sagt Geschäftsführer Teutsch, der sich zudem eine internationale Belegschaft zusammengestellt hat. Etliche seiner 107 Mitarbeiter kommen aus Kasachstan, Rumänien, Tunesien oder Venezuela. Vokabeln wie »Stützstrumpf« oder »Lieferkettengesetz« müssen sie nicht pauken. Um sie für die anspruchsvolle Arbeit anzulernen, kommen Video-Lehrgänge zum Einsatz.

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