Der Brexit hat nicht gezündet

Die meisten Briten sind ernüchtert über die Bilanz des Austritts aus der Europäischen Union

  • Peter Stäuber, Dartford
  • Lesedauer: 6 Min.
Fünf Jahre Brexit – Der Brexit hat nicht gezündet

Wie groß war doch der Enthusiasmus. Großbritannien werde sich »von den Fesseln Brüssels befreien«, es würden »Wachstum und neue Chancen« aufwarten, endlich könnten sich die Briten die »Kontrolle über unser Geld und unsere Grenzen« zurückholen. Es war der 11. März 2016, als Boris Johnson diese Worte sprach. Er stand in einer großen Lagerhalle eines Speditionsunternehmens in Dartford, einer kleineren Stadt südöstlich von London. Drei Monate später kam das Brexit-Votum der Briten, das Erdbeben, das zu Jahren der politischen Instabilität führte und dem Aufstieg des Rechtspopulismus Vorschub leistete. Am 31. Januar 2020 war es so weit: Großbritannien war nunmehr die »eigenständige Nation«, die die Brexit-Anhänger sich gewünscht hatten. Auch in Dartford, wo mehr als 63 Prozent für den EU-Austritt gestimmt hatten, feierte man, im Conservative Association Club gab es Schampus und Tombola.

Das scheint alles lange her. An einem Montagmorgen Ende Januar sucht man in den Straßen von Dartford vergeblich nach Brexit-Begeisterung. Die Fußgängerzone ist mäßig belebt, nach einem Regenschauer treten die Leute zögerlich wieder ins Freie, manche schieben Kinderwagen, andere ziehen Einkaufstrolleys hinter sich her. Auf einem kleinen Plätzchen an einer Straßenkreuzung sind Mick Jagger und Keith Richards in zwei energiegeladenen Bronze-Statuen verewigt – die beiden Rolling Stones sind hier aufgewachsen.

Der Brexit vermiest die Stimmung

Miese Stimmung hingegen stellt sich umgehend ein, wenn man die Leute auf den Brexit anspricht. »Oh, my goodness«, sagt Kerry Hawkins. Die 82-Jährige, geschminkt und mit altmodischem Glockenhut, ist gerade auf dem Weg zum Verwandtenbesuch. »Den Brexit haben sie richtig vermasselt.« Ja, sie habe damals dafür gestimmt, aber sie erinnere sich jetzt gar nicht mehr richtig, warum eigentlich. »Ach ja«, sagt Hawkins dann: »Ich wollte, dass wir Briten unsere eigenen Entscheidungen machen.« Und dann sei da die Immigration: »Wir haben offene Grenzen und wissen gar nicht, wer eigentlich ins Land kommt.« Aber es habe sich in den vergangenen fünf Jahren überhaupt nichts verändert, eine wirkliche Verbesserung der Lebensumstände habe es auf jeden Fall nicht gegeben.

Mit dieser Haltung ist sie in guter Gesellschaft. In den vergangenen Jahren sind immer mehr Briten zum Schluss gekommen, dass der Brexit nicht so richtig gezündet hat – laut Umfragen haben etwa 60 Prozent das Gefühl, er ist bislang schlecht verlaufen; nur zwölf Prozent sind der Meinung, er war ein Erfolg.

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Wer die Gründe dafür finden will, muss nicht lange suchen. Am offensichtlichsten sind die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts. Es war nicht der große Crash, den manche Ökonomen prognostiziert hatten; vielmehr gleicht der Brexit-Schaden einem Loch im Pneu, der der Wirtschaft langsam die Luft ablässt, wie der Thinktank UK in a Changing Europe anmerkt. Der Rechnungshof Office for Budget Responsibility schätzt, dass Großbritanniens Wirtschaftsleistung auf lange Frist um vier Prozent kleiner wird, als wenn das Land Teil der EU geblieben wäre.

In den Jahren nach dem Brexit klagten Unternehmen über einen Mangel an Arbeitskräften, weil viele EU-Migranten abgereist waren. Zudem kämpfen Import- und Exportfirmen mit zusätzlichem Papierkram. Wer konnte, hat Niederlassungen in der EU eröffnet, um die Handelsschranken zu umgehen. Aber vielen kleineren Unternehmen steht diese Möglichkeit nicht offen. Eine im Dezember publizierte Analyse des Centre for Economic Performance an der London School of Economics hat ergeben, dass der Brexit-Handelsvertrag vor allem kleine Exportfirmen getroffen hat: Der Wert ihrer Exporte hat sich seit Inkrafttreten des Vertrags um 30 Prozent verringert.

Joe Sasko sitzt in seinem Lieferwagen hinter dem Shopping-Zentrum von Dartford und raucht eine. »Was für ein Ärger«, sagt er zum Brexit. Sasko führt zusammen mit seiner Frau einen Gemüsestand hier im Zentrum. Es dauere etwa fünf Tage, bis er manche Produkte aus der EU geliefert bekäme – früher sei es ruckzuck gegangen. Auch habe die Grenzbürokratie die Kosten in die Höhe getrieben. Sasko kam 2003 als 20-Jähriger von Ungarn nach Großbritannien. Zunächst arbeitete er in einem Zirkus als Rigger (Höhenarbeiter in der Veranstaltungstechnik, d. Red.), bereiste das ganze Land, von Kent bis zu den Shetland-Inseln. 2020, im Brexit-Jahr, eröffnete er seinen Gemüseladen. Der EU-Austritt hatte auch persönliche Folgen für ihn: Seine Frau ist Nepalesin, sie braucht jetzt für Reisen in die EU – etwa zum Familienbesuch in Ungarn – ein Visum. Trotz allem fühlt sich Sasko noch immer heimisch in Dartford. Anders als viele seiner Freunde aus der EU hat er nicht vor, zurück nach Ungarn zu gehen.

Selbst EU-Gegner sind ernüchtert

Joe Sasko war schon immer gegen den Brexit. Aber in den Straßen von Dartford trifft man auf viele überzeugte EU-Gegner, die genauso ernüchtert sind. Kane Lewis ist einer von ihnen. Der 22-Jährige mit dem Stoppelbart war zwar zu jung, um 2016 im Referendum abzustimmen, aber er hätte den Brexit unterstützt. Er sah es als eine Möglichkeit, dem Land zum Aufschwung zu verhelfen, sagt er. Aber das genaue Gegenteil sei eingetreten. »Die Regierung hat beim Sozialstaat weitere Abstriche gemacht, und der EU-Austritt hat uns nicht davor bewahrt, dass die Inflation stark angestiegen ist«, sagt er. »Auch dem Gesundheitsdienst geht es schlecht.« Lewis hat eine Behinderung und beansprucht den NHS oft. »Aber jedes Mal, wenn ich Hilfe brauche, muss ich endlos lange rumtelefonieren, bis jemand verfügbar ist.«

Dennoch findet er, dass der Brexit an sich richtig war: Das Problem sei vielmehr, dass er nicht mit der nötigen Entschlossenheit umgesetzt worden sei. Vor allem hätte die Migration gedrosselt werden sollen. Er denkt, wenn Boris Johnson noch immer Premierminister wäre, dann würde es dem Land besser gehen – ungeachtet der Tatsache, dass es gerade Johnson war, der den Brexit-Deal ausgehandelt hat. Lewis würde heute wohl für die Rechtsaußenpartei Reform UK stimmen, sagt er.

Allerdings gibt es eine wachsende Zahl von ehemaligen Leave-Befürworter, die es sich angesichts der harschen Brexit-Realität anders überlegt haben. Umfragen sind in den vergangenen Monaten zum Schluss gekommen, dass mittlerweile eine deutliche Mehrheit von etwa 54 Prozent der Briten für die EU-Mitgliedschaft sind, während nur 44 Prozent am Brexit festhalten wollen.

Großmutter Kelly Hawkins ist eine jener ehemaligen Leave-Wählerinnen, die vom »Bregret« geplagt werden – eine Wortkombination aus »Brexit« und »Regret«, Reue. Auf die Frage, ob sie heute noch mal für den EU-Austritt stimmen würde, meint sie nach einigem Zögern: »Wahrscheinlich nicht«.

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