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»Arizona« rückt Belgien nach rechts
Neue Regierung in Brüssel agiert unter Führung der rechtspopulistischen flämischen Nationaldemokraten
Man mag es kaum glauben: Bereits 236 Tage nach den Wahlen vom 9. Juni 2024 hat Belgien seit Montag eine neue föderale Regierung. Nach den vorletzten Wahlen vom Mai 2019 hatte es nämlich deutlich länger gedauert: Erst nach 494 Tagen und einer Notregierung stand damals das Kabinett, dem sieben Parteien angehörten.
Der neuen belgischen Regierung gehören hingegen nur fünf Parteien an: N-VA (flämische Nationaldemokraten), CD&V (flämische Christdemokraten), Vooruit (flämische Sozialisten), Les Engagés (frankophone Zentrumspartei) und MR (frankophone Liberale). Entsprechend der Kombination der Parteifarben, die der Flagge des US-amerikanischen Bundesstaates Arizona gleichen, wird nun von der »Arizona-Regierung« gesprochen. Unterm Strich bleibt, dass die belgische Politik mit der neuen Regierung einen Rechtsruck vollzogen hat – aber bei weitem nicht so weitgehend wie in den Niederlanden, Frankreich, Italien oder wie er in Deutschland droht.
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Welche politischen Veränderungen sind von der Arizona-Koalition zu erwarten? Sozialpolitisch steht Belgien deutlich besser da als Deutschland. Die Arbeitslosenunterstützung ist bisher unbefristet. Und es gibt regelmäßig zu den tariflichen Lohnerhöhungen einen Inflationsausgleich, die sogenannte Indexierung.
Gleichzeitig hat Belgien aber eine vergleichsweise hohe Staatsverschuldung. Im Frühjahr 2024 lag sie bei 106 Prozent des Bruttoinlandproduktes. Dementsprechend hoch ist der Druck der EU-Kommission auf die belgische Regierung, die Staatsausgaben zu kürzen. Es galt, für 2025 einen Betrag von 23 Milliarden Euro einzusparen.
Vorgesehen hat die Regierung einerseits Kürzungen im Bereich der Krankenversicherungen und der Altersrenten, einschließlich einer Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Allerdings kann man nach 42 Jahren sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung unter bestimmten Bedingungen weiterhin ab Anfang 60 in Rente gehen.
Gleichzeitig will das Kabinett durch eine Erhöhung der Beschäftigungsquote auf 80 Prozent – derzeit liegt sie in ganz Belgien bei 72,1 Prozent und im belgischen Bundesland Flandern bei 76,8 – und des Mindestlohns Steuereinnahmen erhöhen und zugleich Sozialausgaben senken. Die Unternehmen sollen zudem stärker an der Finanzierung der Leistungen für Langzeitkranke beteiligt werden, damit ihre Motivation steigt, durch Verbesserungen der Arbeitsbedingungen den Krankenstand zu verringern.
Vooruit – die einzige linke Partei in der Regierung – hat gegen den massiven Widerspruch der frankophonen Liberalen vom MR eine Besteuerung auf Kapitaleinkommen in Höhe von zehn Prozent durchgesetzt. Noch nicht ganz klar ist allerdings, wie es künftig um die Indexierung der Löhne steht.
Regierungsbildungen in Belgien sind besonders kompliziert, weil es praktisch keine landesweiten Parteien gibt. Folglich sollen die jeweils stärksten Parteien aus den drei Regionen in der föderalen Regierung vertreten sein sollen. Schon 2019 war die N-VA die stärkste Partei in Flandern. Aber damals waren die wallonischen Sozialisten (PS) noch deutlich besser aufgestellt und ihr damaliger Vorsitzender Paul Magnette verhinderte eine Regierungsbeteiligung der N-VA, die für Migrationsbegrenzungen eintritt und für eine Staatsreform, die dem flämischen Teil Belgiens mehr Autonomie gibt.
Nun ist die N-VA nicht nur erstmals an der nationalen Regierung beteiligt, sondern sie stellt mit dem früheren Bürgermeister von Antwerpen, Bart De Wever, sogar den belgischen Premierminister. Als Reaktion auf die 2019 von Magnette durchgesetzte Ausgrenzung der N-VA wollte die Partei zeitweilig aus dem seit über 30 Jahren bestehenden »Cordon sanitaire« – so die französische Bezeichnung für die Brandmauer gegen Faschisten – der belgischen Politik gegen den Vlaams Belang (VB) ausscheren. Auf öffentlichen Druck hin hat die N-VA das dann doch unterlassen und wurde erneut stärkste politische Kraft in Flandern vor dem VB, der zunächst in Umfragen vor den Wahlen 2024 in Führung gelegen hatte.
Allerdings musste De Wever sich bereits von seinen flämischen Autonomieansprüchen verabschieden, da weit über 80 Prozent der Belgier nichts davon halten. Was De Wever derzeit als politischen Erfolg für sich verbucht, könnte sich daher zu einem Problem entwickeln, wenn die N-VA-Wählerschaft zu sehr von seiner Regierungsführung enttäuscht sein sollte. Denn als Regierungschef kann er nicht nur flämische Interessen im Blick haben. Dann könnten sich die N-VA-Wähler bei den Wahlen 2029 vermehrt den rechtsextremen Separatisten des VB zuwenden.
Bemerkenswert ist der mediale Umgang mit dem VB in Belgien: Nach den Wahlen haben sich die Medien auf die Berichterstattung über die Koalitionsverhandlungen konzentriert. Vlaams Belang hat damit in der Berichterstattung keine nennenswerte Rolle mehr gespielt, da sich in Belgien auch die Medien an den »Cordon sanitaire« halten.
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