Julia Chuñil in Chile: Wie vom Erdboden verschluckt

Das Verschwinden der indigenen Kleinbäuerin und Umweltschützerin Julia Chuñil spaltet Chile

  • Malte Seiwerth, Máfil
  • Lesedauer: 7 Min.
Wo ist Julia Chuñil? Und wem gehört das Land, auf dem sie lebte? Das sind zwei Fragen, die derzeit viele Menschen in Chile beschäftigen.
Wo ist Julia Chuñil? Und wem gehört das Land, auf dem sie lebte? Das sind zwei Fragen, die derzeit viele Menschen in Chile beschäftigen.

Es ist einfaches Holzhaus, in dem Julia Chuñil bis zu ihrem Verschwinden am 8. November lebte. Die Mapuche hütete ein paar Hühner, Kühe und Schweine. Unweit ihres Anwesens beginnt ein Wald aus mächtigen alten Bäumen und dichten Sträuchern.

Drei ihrer Kinder sitzen vor dem Haus und sind noch immer fassungslos. Die 70-Jährige sei, so ihre Erzählung, auf den nahen Berg gelaufen, um ausgerissene Kühe einzufangen – von dort kam sie nicht mehr zurück. Hunderte Helfer*innen, Drohnen und selbst Flugzeuge des chilenischen Militärs konnten sie nicht finden. Bis heute ist unklar, was mit Julia Chuñil passiert ist.

Das Verschwinden der Mapuche hält Chile seit Monaten in Atem. In mehreren chilenischen Städten finden regelmäßig Demonstrationen statt, die ein schnelleres Handeln der Behörden einfordern. Viele Demonstrierende vermuten einen Konflikt um das Grundstück, auf dem Chuñil lebte, als Ursache für ihr Verschwinden. Es wäre eine weitere Eskalation in dem seit Jahren andauernden Landkonflikt zwischen den europäischen Siedlern und den Mapuche.

Das Anwesen, auf dem die Kleinbäuerin Julia Chuñil lebte, ist abgelegen. Am 8. November wollte sie entlaufende Kühe einfangen, kehrte aber nicht wieder zurück. Sie ist womöglich Opfer eines Verbrechens geworden.
Das Anwesen, auf dem die Kleinbäuerin Julia Chuñil lebte, ist abgelegen. Am 8. November wollte sie entlaufende Kühe einfangen, kehrte aber nicht wieder zurück. Sie ist womöglich Opfer eines Verbrechens geworden.

Pablo San Martín Chuñil zeigt den Ort auf dem Waldboden, an dem er und sein Schwager die letzten Spuren seiner Mutter gefunden haben. Ein paar Schuhabdrücke im Schlamm und Reifenspuren. »Leider waren wir in Eile und haben keine Fotos geschossen«, erinnert er sich. Das war am Sonntag, dem 10. November, zwei Tage nach ihrem Verschwinden. Die Kinder wollten mir ihr zu Mittag essen, doch sie tauchte nicht auf. Daraufhin machten sie sich auf die Suche und verständigten die Behörden.

Julia Chuñil lebte seit zehn Jahren auf dem Land, das sie damals gemeinsam mit einer Mapuche-Gemeinschaft besetzt hatte. Sie hatten gehört, dass die staatliche Indigenenbehörde, Corporación Nacional de Desarrollo Indígena (Conadi), das Landstück gekauft hatte, um es zu verteilen. Doch es gab Unstimmigkeiten bei der Übergabe, und die Aufteilung platzte. Das Land wurde an den ursprünglichen Besitzer, den deutschen Siedler Juan Carlos Morstadt, zurückgegeben. Die Gemeinschaft gab auf. Aber seine Mutter sei standhaft geblieben und habe weiterhin versucht, hier zu leben, erzählt Pablo San Martín.

»Für uns ist Julia Chuñil eine Umweltschützerin«, erklärt Sebastián Benfeld von der Menschenrechtsorganisation Escazú Ahora. »Das müssen nicht unbedingt Aktivsten sein, sondern können auch Menschen sein, die mit ihrem täglichen Handeln eine besondere natürliche Gegend schützen«, meint Benfeld, und das sei bei Julia Chuñil so gewesen. Umgeben von Forstplantagen, sei der Berg mit seinen 900 Hektar Land ein letzter natürlicher Rückzugsort, erklärt Benfeld. Die Biodiversität ist dort beeindruckend.

Vorwürfe an den Staat

Benfeld ist überzeugt, dass das Verschwinden von Chuñil mit ihrer Weigerung zu tun hat, das Land zu verlassen. »Sie wurde mehrmals von lokalen Unternehmern bedroht«, erklärt er, »diese Drohungen wurden immer heftiger und eskalierten dann, als man versucht hatte, ihr Haus anzuzünden.« Der Aktivist wirft dem Staat vor, die Frau nicht beschützt zu haben. Menschenrechtler*innen von Escazú Ahora haben inzwischen zusammen mit den Kindern von Julia Chuñil eine Strafanzeige gestellt.

In Máfil, dem nächstgelegenen Dorf von Chuñils Anwesen, demonstrieren mehrere Angehörige und wollen an die Verschwundene erinnern. Anwesend ist dort auch Jaime Raipan. Der ältere Mann, gekleidet mit einem Wollponcho und mit einer traditionellen Fahne der Mapuche in der Hand, ist ein Freund von Julia Chuñil. Er vertritt die Interessen der örtlichen Mapuche gegenüber dem Landwirtschaftsministerium. Raipan meint: »Das Grundproblem ist die Landfrage. Der Staat muss endlich für eine Rückgabe der Mapuche-Ländereien sorgen.«

Die Landverteilung spaltet seit Jahrzehnten den Süden Chiles. Ende der 1990er Jahre siedelte der chilenische Staat vornehmlich europäische Siedler*innen im Süden des Landes an und gab ihnen Ländereien, auf denen ursprünglich indigene Mapuche lebten. Seit 2008 erkennt Chile offiziell die Vertreibung und den Einsatz von massiver Gewalt gegen die Mapuche an und gibt den Siedler*innen eine Mitschuld an der Eskalation: Diese sollen ihre Ländereien durch Verschiebung der Grenzsteine, Zwang und Betrug systematisch erweitert haben.

Eine Wiedergutmachung läuft nur schleppend an. Die mit Rückgabe der Ländereien beauftragte Conadi ist wiederholt mit dem Vorwurf konfrontiert worden, nicht professionell zu agieren. Durch Landkauf sollten eigentlich die Mapuche-Gemeinschaften ihr Land zurückerhalten. Doch wiederholt haben chilenische Medien aufgedeckt, dass Gelder nicht genutzt oder zu hohe Preise für das Land bezahlt werden. Viele Mapuche besetzen daher Ländereien. Teilweise kommt es dabei zu Auseinandersetzungen. Die Regierung setzt daher in einzelnen Gebieten der Mapuche das Militär zur Aufrechterhaltung der Sicherheit ein. Auch rechtsextreme Gruppierungen aus Siedlerkreisen drohen regelmäßig Gewalt an.

Schneller Verdacht

Menschenrechtsorganisationen vermuten, dass hinter dem Verschwinden von Julia Chuñil der Grundbesitzer Juan Carlos Morstadt stecken könnte. Auch Mariela Santana von der Vereinigung für die Rechte des Volkes (Codepu) hält das für möglich. Morstadt habe die Kleinbäuerin nämlich mehrfach dazu gedrängt, das Land zu verlassen, erklärt sie. Die Codepu brachte Anfang des Jahres den Fall Chuñil vor die interamerikanische Kommission für Menschenrechte und den UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen.

Auch im Internet kursiert der Name Morstadts als Verdächtiger. Fotos und persönliche Daten über ihn lassen sich leicht finden. Morstadts Vorfahren gehörten zu den ersten Siedlern, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Chile kamen und sich in Valdivia niederließen. Die Stadt ist bis heute wegen ihres deutschen Einflusses bekannt. Später bauten sie mehrere große Landgüter auf, davon profitiert Morstadt offenbar bis heute.

Die öffentliche Brandmarkung habe dazu geführt, dass Morstadt inzwischen bedroht werde, sagt Carole Montory, Anwältin des Unternehmers, am Telefon. Ihr Mandant habe keinerlei Verbindungen zum Verschwinden von Julia Chuñil, beteuert sie. Er habe lediglich auf rechtlichem Wege versucht, sein Land zurückzuerhalten – die Verfahren dazu stünden noch aus. Gleichzeitig gibt die Anwältin an, rechtlich gegen jene vorzugehen, die Morstadt ohne abgeschlossenes Verfahren für das Verschwinden der Kleinbäuerin verantwortlich machen. Morstadt selbst verschickt eine Audioaufnahme, in der er die Familie von Julia Chuñil für das Verschwinden verantwortlich macht. Noch dauern die Ermittlungen an.

Politik verspricht Aufklärung

Anfang Dezember äußerte sich auch der chilenische Präsident Gabriel Boric zum Fall Chuñil. Es sei im Interesse des Staates schnell für Aufklärung zu sorgen, erklärte er und versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um dabei zu helfen. Ein Staatsanwalt ist inzwischen ausschließlich mit dem Fall beauftragt worden. Über die Ermittlungen dringt nicht viel an die Öffentlichkeit. Bekannt ist nur, dass mehrfach das Haus von Julia Chuñil und das einer Tochter durchsucht wurde. Bislang allerdings ohne konkrete Ergebnisse. Ein Pressesprecher der Staatsanwaltschaft will darüber keine Aussagen machen.

Während der Demonstration in Máfil mahnt die sozialdemokratische Parlamentarierin Ana María Bravo zur Vorsicht. Während die Ermittlungen laufen, »sollten wir keine voreiligen Schlüsse ziehen«, rät sie. Sie ist Teil einer parlamentarischen Kommission, die sich für das Verschwinden von Julia Chuñil gegründet hat. Bravo gehe es darum, dafür zu sorgen, dass die Aufklärung vorankomme. Darüber hinaus setzt sie sich dafür ein, die Arbeit von Conadi zu verbessern. Sie selbst habe in der Behörde gearbeitet, und ihr sei bewusst, dass die Rückgabe von Land zu langsam vonstatten gehe; häufig würden auch Grundstücke vergeben, die nicht den Wünschen der Mapuche-Gemeinschaften entsprechen.

Damit wird das Misstrauen der indigenen Gemeinschaften, die sich entrechtet und benachteiligt fühlen, nicht ausgeräumt. Wer aber die Region nachhaltig befrieden will, muss den anhaltenden Landkonflikt lösen.

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