Strahlende sowjetische Heldentat

Erneuerte Gedenktafel für zwei Fliegeroffiziere, die 1966 ihr Leben für Hunderte Westberliner opferten

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Am Mittwochmorgen liegen die ersten Blumen an der neuen Gedenktafel. Es kommen noch einige hinzu.
Am Mittwochmorgen liegen die ersten Blumen an der neuen Gedenktafel. Es kommen noch einige hinzu.

»Hier haben sich zwei Menschen geopfert«, sagt der Pazifist Friedemann Gillert. »Vielleicht haben sie noch ein bisschen gehofft, heil rauszukommen.«

Fakt ist: Als der sowjetische Hauptmann Boris Kapustin und Oberleutnant Juri Janow am 6. April 1966 ein fabrikneues Jagdflugzeug vom Typ Jak-28P von Finow nach Köthen überführten, fielen beide Triebwerke aus. Wären die beiden Piloten mit dem Fallschirm abgesprungen, wäre die Maschine wahrscheinlich über dicht besiedeltem Gebiet in Westberlin abgestürzt. Hunderte Menschen hätten sterben können. Dies verhinderte Kapustin, indem er die Jak-28P in den Stößensee steuerte. Zweimal forderte Kapustin seinen Ko-Piloten auf, dieser solle sich retten. »Jura, wahrscheinlich musst du jetzt springen«, sagte er zunächst. Dann: »Jura, spring!« Doch Janow lehnte ab. »Boris Wladislawowitsch, ich bleibe bei Ihnen«, wehrte er ab. »Kommandeur, ich bleibe.« Der aus dem Wrack geborgene Flugschreiber hat diesen Wortwechsel aufgezeichnet.

Seit 1993 erinnert eine Gedenktafel am Geländer der Stößenseebrücke im Bezirk Spandau an diese selbstlose Heldentat mitten im Kalten Krieg. Sie war im Laufe der Jahrzehnte verwittert und wurde jetzt durch eine neue ersetzt. 22 dankbare Deutsche haben zusammen knapp 7000 Euro gespendet, um das zu finanzieren. Einer von ihnen fragte bei Friedemann Gillert nach, wie viel Geld noch fehle, er werde den Rest übernehmen.

Unter der Überschrift »Wir vergessen es nicht« hatte Gillert um Spenden gebeten, da sich die alte Berliner Tafel in einem beklagenswerten Zustand befinde. In Eberswalde, wo Gillert wohnt, gibt es auch eine Gedenktafel für Kapustin und Janow auf dem Friedhof der sowjetischen Garnison und außerdem eine im Luftfahrtsmuseum in Finowfurt neben einer dort abgestellten Jak-28.

Die frisch am Geländer der Stößenseebrücke angebrachte Tafel strahlt am Mittwochmorgen im Sonnenlicht. 41 Personen sind zur feierlichen Einweihung um 10 Uhr gekommen, wenn man die drei Polizisten mitzählt, die notfalls für Ruhe und Ordnung sorgen müssten. Doch es kommt zu keiner Störung.

1966 erkannte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) die Heldentat an. Aber andere Westberliner warfen hasserfüllt Steine nach den sowjetischen Soldaten, die versuchten, das Wrack aus dem See zu bergen. Denn die Nato sollte keine Kenntnis von den ihr noch unbekannten technischen Finessen des neuen Flugzeugtyps erlangen. Doch britische Streitkräfte, zu deren Zone Spandau gehörte, verhinderten die Bergung durch ihre Feinde. Kapustin und Janow aber unterschieden damals nicht zwischen Freund und Feind und retteten damit vielen Westberlinern das Leben.

»Warum ist es mir so wichtig, gerade heute an diese beiden russischen Offiziere zu erinnern?« Friedemann Gillert beantwortet diese Frage am Mittwoch an der Stößenseebrücke gleich selbst: »Sie waren als Offiziere zum Töten des Feindes im Krieg ausgebildet und opferten sich selbst, um inmitten des Kalten Krieges unzählige sogenannte Feinde zu schützen.«

»Jetzt tobt in der Ukraine ein imperialistischer Krieg«, sagt Gillert. »Dennoch dürfen wir Deutschen uns aber nicht gegen ›die Russen‹ aufhetzen lassen. Ich möchte, dass es zwischen den beiden bedeutendsten Ländern in Europa, Deutschland und Russland, wieder Freundschaft gibt.« Gillert fügt hinzu: »Ich möchte, dass der jetzt in der Ukraine und in Russland aufgebaute Nationalismus wieder eingedämmt wird. Was rede ich von diesen Ländern? Auch in unserem Land greift er um sich.«

Gillert hofft, »dass Russen heute erfahren, dass deutsche Menschen, einfach so, aus anhaltender Dankbarkeit und in ehrendem Gedenken an zwei russische Helden fast 7000 Euro spendeten, um diese Tafel wieder neu zu gießen«. Dann sehen Russen, so glaubt Gillert, »dass es nicht ganz stimmen kann, dass der ganze Westen gegen sie ist und sie ihre christlichen Werte gegen den ›verdorbenen Westen‹ verteidigen müssen«. Als Christ könnte er sagen, dass Jesus, wenn er wiederkomme, mit einem Wort allen Machthabern die Waffen aus den Händen nehmen werde, predigt Gillert. Aber bis dahin seien »wir alle« in der Verantwortung, »dass wir alles für den Frieden und die Freundschaft zwischen Menschen und Völkern tun«.

»Jetzt tobt in der Ukraine ein imperialistischer Krieg. Dennoch dürfen wir Deutschen uns aber nicht gegen ›die Russen‹ aufhetzen lassen.«

Friedemann Gillert Initiator der Gedenktafel

40 Menschen hören am Mittwoch, wie Gillert das sagt. Außer den drei Polizisten trägt noch einer von ihnen Uniform. Es ist eine Uniform der Fallschirmjäger. Der Mann heißt Alexander Pawlenko und ist stellvertretender Militärattaché der russischen Botschaft. Es sind noch weitere Mitarbeiter der Botschaft anwesend und mit Pawel Iswolski der Leiter des Russischen Hauses in der Berliner Friedrichstraße.

Auch die betagte Karin Tybus ist mit ihrer Tochter gekommen. Sie und ihr Mann Konrad mussten lange kämpfen, bis sie erreichten, dass der Bezirk Spandau 1993 endlich die erste Gedenktafel an der Brücke anbringen ließ. Der Westberliner Konrad Tybus ist mittlerweile verstorben. Doch seine Tochter versichert: »Er wäre sehr angetan.«

Nicht gekommen ist Boris Kapustins Sohn Waleri, der mittlerweile um die 70 Jahre alt ist und in einem Vorort von Moskau lebt. Aber Waleri hat Friedemann Gillert einen Brief geschrieben, der am Mittwoch ins Deutsche übersetzt verlesen wird. Er teile die Ansicht von Gillert, dass die deutsch-russische Freundschaft wiederbelebt werden müsse, lässt Waleri Kapustin wissen. Er verrät, er sei als Kind in Finow, wo der Vater stationiert war, glücklich gewesen – und so glücklich nicht allein deshalb, weil damals sein Vater noch lebte. »Er hat die Menschen sehr geliebt«, berichtet Walerei über seinen Vater.

Über alles liebte Boris Kapustin seine Frau Galina. Als für damalige Verhältnisse erstaunlich moderner Ehemann erzog er seine Kinder alles andere als autoritär und half seiner Frau im Haushalt. Er musste sich deswegen beispielsweise anhören, es sei unter der Würde eines sowjetischen Offiziers, die Fenster zu putzen. Kapustin tat es dennoch unbeirrt.

Die alte, abgenommene Gedenktafel kommt ins Museum in der Zitadelle Spandau.

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