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Die Verkehrswende erklettern

Aktivisten erklären Solidarität mit Bahnstreiks und fordern bezahlbaren Nahverkehr

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Sicherheitspersonal war bestimmt froh, nicht hinterherklettern zu müssen.
Das Sicherheitspersonal war bestimmt froh, nicht hinterherklettern zu müssen.

Dutzende Schaulustige, Polizist*innen und Feuerwehrleute haben sich am Donnerstagmorgen auf dem Washingtonplatz am Berliner Hauptbahnhof versammelt und schauen zum Teil erwartungsvoll, zum Teil eher ungeduldig auf den hohen gläsernen Turm des Bahnhofsgebäudes. Auf einem der Stahlbalken, mit denen dieser umrandet ist, sind hoch über der Erde vier Menschen zu sehen. Alle tragen Helm, haben sich mit dicken Seilen an den Stelen festgebunden und ziehen sehr langsam ein zusammengerolltes weißes Banner von der einen zur anderen Seite. Die Polizei hat den Bereich um das Hochhaus großräumig mit rot-weißem Flatterband abgesperrt.

Bei den Kletternden handelt es sich um Aktivist*innen der Umweltschutzorganisation Robin Wood und der Verkehrswende-Initiative Sand im Getriebe. Einige ihrer Mitstreiter*innen verteilen am Boden Flyer an Passant*innen und erklären, dass es sich um eine Protestaktion für eine sozial und ökologisch gerechte Verkehrspolitik handelt. »Wir fordern die Menschen auf, bei der Bundestagswahl am Sonntag Klima und Gerechtigkeit eine Stimme zu geben«, erklärt Annika Fuchs, Mobilitätsreferentin von Robin Wood.

Der Hauptbahnhof als Aktionsort und der Termin während des Streiks der Berliner Verkehrsbetriebe – beziehungsweise einen Tag vor den Bahn-Streiks in sechs weiteren Bundesländern – soll Solidarität mit den Beschäftigten ausdrücken. »Sie sind das Rückgrat der Verkehrswende«, sagt Fuchs zu »nd« und verweist darauf, dass in den kommenden Jahren zehntausende Bus- und Bahnfahrer*innen in den Ruhestand gehen. Ohne genügend Personal kann es jedoch keinen ÖPNV-Ausbau geben. Voraussetzung dafür seien also »faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen«, so Mila von Sand im Getriebe.

»Wir fordern die Menschen auf, bei der Bundestagswahl am Sonntag Klima und Gerechtigkeit eine Stimme zu geben.«

Annika Fuchs Mobilitätsreferentin (Robin Wood)

Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit müssten unbedingt zusammen gedacht werden, findet Fuchs. Zurzeit würden viele Menschen die Klimaziele eher mit Preissteigerungen assoziieren, die sie sich womöglich nicht leisten können, auch weil gegenteilige Maßnahmen wie das 9-Euro-Ticket wieder abgeschafft wurden. Gerade ärmere Menschen seien auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, könnten die immer höheren Ticketpreise aber oft nicht mehr bezahlen, während reiche Deutsche laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung allein durch ihre Mobilität siebenmal so viele CO2-Emissionen verursachen wie die »unteren« zehn Prozent der Gesellschaft.

Da zurzeit rund 22 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen auf den Verkehrssektor entfallen, wäre ein für alle bezahlbares Deutschlandticket ein zentraler Baustein, um die Klimaziele zu erreichen. Dabei komme es, so Fuchs, weniger auf die genaue Höhe des Ticket-Preises an, sondern eher darauf, dass zur Finanzierung klimaschädliche Subventionen wie das Diesel- oder das Dienstwagenprivileg abgeschafft würden. Laut einer Studie des Öko-Instituts und des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung könnten dadurch fast 25 Milliarden Euro freigesetzt werden.

Geld ist auch für die von Robin Wood und Sand im Getriebe geforderte Verdoppelung des ÖPNV bis 2030 nötig, damit gemeint ist der Ausbau von Bus- und Bahnnetzen mit mehr Verbindungen und höherer Taktung gerade in ländlichen Regionen, wo Menschen ohne Auto »zurzeit aufgeschmissen« sind, so Mila. Außerdem müsse eine Modernisierung des Nahverkehrs Barrierefreiheit ins Zentrum stellen. »Nur so können auch Menschen mit Kinderwägen, im Rollstuhl und alte Menschen mobil sein.«

Mit der unangemeldeten Aktion am Hauptbahnhof, nicht weit vom deutschen Bundestag, wollen die beiden Gruppen, die schon beim Protest gegen die Internationale Automobil-Ausstellung (IAA) zusammengearbeitet haben, Wähler*innen darauf aufmerksam machen, dass die Bundesregierung die Mobilitätswende seit Jahren verschleppt, dass Klimagerechtigkeit im Wahlkampf trotz eskalierender Klimakrise kaum eine Rolle gespielt hat und dass sie ein entsprechendes Zeichen an die Bahngewerkschaften senden.

Etwas schleppend zieht sich derweil auch die Aktion am Hauptbahnhof hin: Nachdem die vier Kletteraktivist*innen schon über eine Stunde bei Minusgraden auf dem Hochhaus zu Gange sind, ist das Banner immer noch nicht entrollt. Eine junge Mutter hüpft mit ihrem kleinen Kind auf dem Washingtonplatz hin und her, um warm zu bleiben – sie wolle das unbedingt mal live sehen und nicht ganz knapp verpassen, sagt sie. Dann seilen sich zwei der Aktivist*innen, die mit je einer Ecke des Transparents verbunden sind, zwei Etagen nach unten ab und plötzlich geht es ganz schnell: Das Banner entrollt sich, einige Zuschauer*innen fangen an zu jubeln. »Mobilität Fair-Ändern. Alle abholen, Öffis ausbauen«, steht auf dem 75 Quadratmeter großen Stück Stoff, das nun vor der Glasfassade im Wind flattert.

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