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Die Barbiere von Sevilla: Betis rasiert Real Madrid

nd-Kolumnist Willmann ist dabei, als die Grünen die Königlichen in die Knie zwingen

Betis, Betis, Betis – wir sind verrückt nach dir!
Betis, Betis, Betis – wir sind verrückt nach dir!

Mein letztes Liebesspiel unter der Beteiligung von Real Madrid ereignete sich im Jahr des Herrn 1981 zu Jena. Die seinerzeit Unerreichbaren von Real Madrid gastierten im Uefa-Cup beim FC Carl Zeiss Jena. Es war November und die mit Braunkohle geschwängerte Luft nahm uns den Atem, die wir wie junge Hirsche zum Ernst-Abbe-Sportfeld tollten, nur eins im Sinn, Real Madrid fallen zu sehen, bereits ein 1:0 hätte uns nach einer 2:3 Hinspielniederlage gereicht. Ich wusste noch nicht, dass dieser Abend für mich den (vorläufigen) Abschied vom FC Carl Zeiss und dem Europacup bedeuten sollte, weil sich nach verschiedenen, sehr bald stattfindenden Begebenheiten, die man als politische Ereignisse bezeichnen muss, mein Verhältnis zur DDR und dem Fußball in ein ablehnendes verwandeln würde.

Ich war gerade 18 Jahre alt, meine Metamorphose zum Staatsfeind (im Westen nannte man uns Bürgerrechtler), der ich nie sein wollte, stand unmittelbar bevor. Ich las Nietzsche, Max Stirner und Schriften der westdeutschen Grünen wild durcheinander, verkaufte mein Motorrad aus Gründen des Umweltschutzes, trug einen »Schwerter zu Pflugscharen«-Aufnäher und einen schwarzroten Stern am Revers meiner Jacke.

Mitten in diese Großereignisse platzte Real Madrid. Ich hatte mich schon halb von meinen Fußballfreunden verabschiedet, weil ich, außer des Fußballvereins keine Gemeinsamkeiten mehr mit ihnen zu haben schien. Ja, ich spürte jugendlichen Ekel vor ihrer Fußballfixierung, wo doch die Welt zu zerbrechen drohte (Nato-Doppelbeschluss, Atomraketen in Ost und West, Reagan, Tschernobyl usw.). Real kam nach Jena, das Stadion war ausverkauft, wir warteten bis zum Schluss auf das Tor, das nicht fiel. Der Klub verweigerte uns die Erlösung, bereits im Zug zurück nach Weimar vollzog sich der Bruch, ich hängte meinen Schal im Schrank nach weit hinten, meine Schwester holte ihn Jahre später wieder hervor.

Sevilla ist die Stadt kreischender, grüner Halsbandsittiche. Sie bevölkern die zahlreichen Parks und Grünanlagen der wunderbaren Stadt in Andalusien und zeigen den anderen Birds, wer Herr im Haus ist. Selbst der Schrei der Turmfalken wird von ihnen lässig übertönt, besonders Anfang März, wenn es darum geht, sich um die Erhaltung der Art zu bemühen.

Knapp 60 000 grün gewandete Betis-Sevilla-Fans können nicht irren. Wildes Gekreische, als ihre balltretenden Götter das Stadion betreten: Eine Diva folgt mit drei befrackten Musikern ins Areal und stimmt ein Loblied auf die Grünen an. Trump und die Sorgen der gesamten Menschheit sind weit entfernt, als der Schiedsrichter (von dem man in ganz Spanien grundsätzlich zu wissen glaubt, er sei entweder von Real Madrid oder vom FC Barcelona bestochen) das Spiel anpfeift und Real Madrid sofort die Initiative ergreift. Betis nimmt in der zehnten Minute demütig das 0:1 hin. Alle im Stadion sind für einen Moment still.

Werden heute die Grünen eine mörderische Abreibung erleben? Real in den nächsten Minuten bräsig, halblasch. Betis presst stets bemüht, die Zuschauer gehen bei jeder Entscheidung des Schiedsrichters sofort an die Decke und schunkeln sich in eine knorke Euphorie.

Vor der Trainerbank ruht Madrids Meistercoach Carlo Ancelotti in sich und streicht über seinen edlen Stoff, gentlemanlike immer die Ruhe bewahrend, warum auch nicht heute. Neben ihm posiert der subproletarische Betiscoach Menuel Pellegrini, heute desgleichen elegant gekleidet. Beide erinnern an geistreiche Flaneure, die mit ihrer Anwesenheit die Straßen der herrlichen Altstadt Sevillas beseelen.

Ab Mitte der ersten Halbzeit beginnt Ancelotti, vermehrt mit den Armen zu fuchteln. Fuchsteufelswild auch die Grünen, die im Inneren ihrer Gedärme etwas Großes auf sich zukommen spüren. Ein inspirierter Isco (zum Glück nicht bei Union Berlin gelandet, er hätte sein Talent dort verloren) bringt die Ecke für Betis rein. 1:1. Die Grünen toben, doch es ist ein gütiges Toben.

Wolkenbruch! Der Himmel öffnet seine Schleusen. Die durstige Erde Andalusien lässt das heilige Nass in ihre Furchen dringen.

Halbzeit. Die Zuschauer im nicht überdachten Bereich des Stadions flüchten in die Katakomben, wie die frühen Christen Roms es taten, um den Zähnen der Löwen im Circus Maximus (siehe »Die Digedags im alten Rom«) zu entkommen. Coach Pellegrini wechselt in der Pause seine 4000-Euro-Lederslipper gegen profane, jedoch wasserdichte Sneaker.

Anpfiff 2. Halbzeit. Real rammdösig, Betis mit Schneid. Isco zaubert. In der 53. Minute wird der Schiedsrichter zum besten Freund Sevillas. Elfmeter. Isco verwandelt. Der Nachthimmel leuchtet. Reals Stärke verdampft. Auswechslung Mbappé. Mitleid? Come on, es ist Real.

Elder Statesman Ancelotti runzelt die Stirn. Pellegrini tanzt, die Fans tanzen. Betis, Betis, Betis – wir sind verrückt nach dir!

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