- Politik
- Machtkampf im Sudan
»Der Westen hat zwei Kriegsverbrecher legitimiert«
Die sudanesische Schriftstellerin Fatin Abbas über den Machtkampf der beiden Generäle in ihrem Land
»Der Machtkampf von zwei Generälen hat zu 150 000 Toten und zehn Millionen Vertriebenen geführt. Alle zwei Stunden verhungert ein Kind. Und die Welt? Hat gerade anderes zu tun.« Das war die Einleitung zu ihrem Essay »Apokalypse Sudan« vor einem halben Jahr. Wie ist die Lage jetzt, sechs Wochen vor dem zweiten Jahrestag des Kriegsbeginns zwischen Abdel Fattah Al-Burhan, einem Armeegeneral und Präsident Sudans, und Mohammed Hamdan »Hemeti« Dagalo, Anführer der Rapid Support Forces und Vizepräsident bis 15. April 2023?
Die Lage ist weiter katastrophal. Die Todeszahlen gehen weiter hoch. Schätzungen liegen bei mutmaßlich 150 000 Toten, wegen der Dunkelziffer könnten es noch weit mehr sein. Es gibt keine gesicherten Zahlen, aber mehr und mehr Einschätzungen, dass die in vielen Medien genannten Zahlen weit unter den wirklichen lagen. Allein im Bundesstaat Khartum werden die Toten auf 61 000 beziffert. Bei einem Massaker in Darfur sollen 15 000 Menschen getötet worden sein. Die Dimension ist gewaltig.
Hinzu kommen 14 Millionen Vertriebene, elf Millionen innerhalb des Sudans, drei Millionen sind aus dem Land geflüchtet. Die Vertreibung geht weiter. Und laut dem International Rescue Committee sind über 30 Millionen Menschen in Sudan auf humanitäre Hilfe angewiesen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Die Hilfe fließt nach wie vor stockend, es kommt zu wenig an, der Hunger nimmt zu. Hinzu kommt, dass große Teile der Agrarstruktur zerstört wurden, die Menschen können sich nicht mehr selbst ernähren, und es kommen zu wenig Nahrungsmittel als Hilfe an.
Wie entwickelt sich der Konflikt zwischen den Streitkräften der regulären Armee (SAF) und paramilitärischen Milizen der Rapid Support Forces (RSF)?
Für den Hintergrund muss man wissen, dass die RSF von der Armee gegründet wurden. Die RSF wurden vom Diktator Omar Al-Baschir 2013 ins Leben gerufen. Schon ihr Vorläufer, die sogenannten Dschandschawid, hatten unter Hemetis Führung im Darfur-Krieg 2003 bis 2008 zusammen mit der Armee in dieser westlichen Provinz ethnische Säuberungen und Massaker verübt, die von der Uno als Genozid eingestuft wurden. Der Konflikt im April 2023 entstand um die misslungene geplante Eingliederung der RSF in die Armee. Seitdem bekämpfen sich die beiden Seiten, mal gewinnt die eine Territorium, mal die andere. Derzeit gewinnt die Armee ein wenig die Oberhand, vor allem im Großraum Khartum, aber auch im Gezira Bundesstaat, wo die RSF vergangenes Jahr große Massaker verübten. Es gibt Sudanesen, die den Vormarsch der Armee feiern. Ich nicht, für mich sind sie zwei Seiten einer Medaille, und beide sind Monster. Das zeigt sich allein daran, dass die Armee, nachdem sie Territorium zurückgewonnen hat, dort auch Massaker verübt hat – mit der Begründung, die Menschen hätten mit der RSF zuvor kollaboriert. Das zeigt einmal mehr, dass keine der beiden Seiten dem Sudan eine Lösung bringen, dass Krieg keine Lösung ist. Beide sind extrem gewalttätige Akteure. Beide stehen nicht für eine demokratische Zukunft des Sudan.
Die Armee unter General Al-Burhan stellt gerade wieder eine neue Übergangsregierung in Aussicht, bevor in noch nicht absehbarer Zeit Wahlen stattfinden sollen. Die waren von der Militärregierung für Juli 2023 zugesagt, bevor der Krieg vom Zaun gebrochen wurde …
Die Armee war die meiste Zeit an der Macht, seit Sudan 1956 die Unabhängigkeit erlangte, in Form von Militärdiktaturen. Von der Armee ist keine demokratische Zukunft zu erwarten. Dass die RSF gerade auf der Verliererstraße sind, macht noch keine Hoffnung auf eine demokratische Zukunft. Frieden ist nach wie vor nicht in Sicht und in Darfur haben die RSF weiter die Kontrolle und verüben Menschenrechtsverbrechen.
Ein Teil Ihrer Familie war zu Kriegsbeginn im Sudan. Wo befinden sich ihre Angehörigen jetzt?
Der Großteil der Familie meines Vaters lebte damals noch in Khartum und Omdurman. Fast die gesamte Familie ist in den ersten Kriegswochen nach Ägypten geflüchtet wie viele andere auch. Zum Glück haben sie es unversehrt nach Kairo geschafft, auch die noch in Omdurman verbliebenen Familienmitglieder sind alle okay. Sie leben zum Glück nicht mitten im Kriegsgebiet. Die Lebensumstände sind sehr schwierig, und sie schlagen sich so gut durch, wie es eben geht. Die Familie meiner Mutter lebte größtenteils schon außerhalb Sudans, und ein paar Verbliebene haben das Land wegen des Krieges auch noch verlassen. Meine Familie schwankt zwischen Angst und Glück, Angst wegen des Krieges, wegen der Flucht und Glück, bisher unbeschadet an Leib und Leben davon gekommen zu sein.
Die internationale Berichterstattung zeichnet oft das vereinfachte Bild eines Krieges zwischen zwei Generälen. Beide Seiten sind in erster Linie Gewaltakteure, die versuchen, ihre wirtschaftlichen und militärischen Interessen durchzusetzen. Ist das ein richtiges Bild?
Ich teile diese Beschreibung nicht. Klar ist es ein Krieg zwischen zwei Generälen, aber vor allem ist es ein kolonialer Krieg. Vor ein paar Jahren dachte ich, wir leben in einer postkolonialen Welt, inzwischen denke ich, es gibt eine koloniale Kontinuität. Ausländische Mächte wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Iran und Russland haben unter rücksichtsloser Verfolgung ihrer eigenen Interessen dazu beigetragen, diesen Krieg fortzusetzen. Dahinter steht das Interesse, die Rohstoffe im Sudan auszubeuten wie im Kolonialismus.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel werden die RSF massiv von den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützt. Hemeti gilt als der König des Goldes und hat mit den RSF Zugriff auf lukrative Goldminen. Ägypten, Katar und Iran unterstützen die SAF und Al-Burhan. Aber es gibt etwas, was noch gewichtiger ist. Ohne die Unterstützung von außen wären Al-Burhan und Hemeti nach dem Sturz von Al-Baschir 2019 nicht im Amt geblieben, die USA, Großbritannien, die EU und die Mächte des Nahen Ostens bestätigten sie beim Übergang zu einer demokratischen Regierung gegen den ausdrücklichen Willen der zivilgesellschaftlichen Gruppen. Und nach dem Putsch am 15. Oktober 2021 gegen die zivil-militärische Übergangsregierung unter Abdallah Hamdok durch Al-Burhan und Hemeti blieb der Westen seiner Position treu … Es wird viel über demokratische Werte geredet, und dann werden autokratische Führer gestützt.
Die Europäische Union hat im Rahmen ihres »Better Migration Management« mit dem Diktator Al-Baschir zusammengearbeitet. Wie sehen Sie die Verantwortung des Westens, der USA und der EU, die beim geplanten Übergang zur Demokratie Al-Burhan und Hemeti mit dem Argument unterstützt haben, es gäbe keine Alternative dazu, als mit beiden zusammenzuarbeiten?
Ich sehe das als einen riesigen Fehler. Die sudanesische Zivilgesellschaft mahnte von Beginn des Übergangs nach Al-Baschir an, dass man weder Hemeti noch Al-Burhan trauen und sie nicht in die Regierungsarbeit einbeziehen könne. Es galt das Motto »Keine Verhandlungen, keine Partnerschaft, keine Legitimation« in Bezug auf die beiden. Der Westen hat das ignoriert. Der Westen hat zwei Personen Legitimität verschafft, die der verlängerte Arm des Baschir-Regimes waren, zwei Personen, die in die größten Grausamkeiten und Menschenrechtsverbrechen des Baschir-Regimes verwickelt waren. Es sind zwei Kriegsverbrecher.
Hemeti war ein wichtiger Türsteher zur Abschottung von Migranten Richtung Europa …
Ja. Die EU hat mit Sudan zur Abschottung kooperiert. Die EU übersieht, dass sie Fluchtursachen schafft, wenn sie mit Autokraten, Diktatoren, Kriegsverbrechern zusammenarbeitet und sie in vielen Fällen aktiv unterstützt. Im Sudan gibt es jetzt über 14 Millionen Geflüchtete. Die, die Mittel haben, Richtung Europa aufzubrechen, werden es sich zumindest überlegen … Es ist eine kurzsichtige Politik. Migration lässt sich nicht durch Abschottung stoppen. Die EU redet davon, Demokratien zu fördern und stützt dann Diktatoren und Autokraten, die die Wirtschaft in ihren Ländern zerstören und die Menschen in die Flucht treiben. Ganz zu schweigen von der ausbeuterischen Beziehung zwischen Europa und Afrika beim Handel, wo Afrika seit Kolonialzeiten zum Rohstofflieferant degradiert ist. Zudem kommt der Klimawandel, der hauptsächlich durch den Globalen Norden verursacht wird und unter dem in erster Linie die Menschen im Globalen Süden zu leiden haben.
Der Aufstand der zivilen Bewegung seit Dezember 2018 wurde von den sogenannten Widerstandskomitees angeführt, einem dezentralen Netzwerk von lokal verankerten Gruppen. Sind sie noch aktiv?
Ja. Vor allem die von den Widerstandskomitees schon 2019 gegründeten Notfalleinrichtungen namens Emergency Response Rooms (ERRs) leisten eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe. Sie wurden den neuen Bedingungen unter dem Krieg angepasst. Sie verteilen zum Beispiel Medikamente, gespendete Nahrungsmittel und geben Opfern sexueller Gewalt psychologischen Beistand. Sie sind leider der Gewalt der RSF und der SAF ausgesetzt. Ich habe von gefolterten, getöteten und verschleppten ERRs-Mitgliedern gehört. Die Arbeit der ERRs ist gefährlich, sie ist aber wichtiger denn je, weil viele Hilfsorganisationen aus dem Ausland das Land wegen des Krieges längst verlassen haben. Es kommt in der Kriegssituation nur wenig humanitäre Hilfe im Land von außen an. Die ERRs haben viele tausende Menschenleben bereits gerettet. Es ist aber offensichtlich nicht genug, was sie leisten können, um die Not zu lindern. Es bedarf mehr Hilfe von außen, und es bedarf mehr Drucks auf die Unterstützer der Kriegsparteien, damit sie ihre Schützlinge Al-Burhan und Hemeti dazu bringen, ausreichend Hilfskorridore zuzulassen.
Frauen spielten eine sehr wichtige Rolle bei der Revolution, die 2019 zum Sturz von Al-Baschir führte. Stehen sie immer noch im Mittelpunkt der zivilen Widerstandskomitees?
Ja, die Frauen spielen immer noch eine wichtige Rolle. Auch deswegen sind sie in diesem konterrevolutionären Krieg zweier Generäle gegen eine unbewaffnete Zivilbevölkerung noch mehr sexueller Gewalt ausgesetzt als schon zuvor. Die sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen hat im Krieg noch massiv zugenommen. Sie wurde schon im Darfur-Krieg 2003 bis 2008 vor allem gegen die Massalit, Zaghawa und Fur eingesetzt, jetzt trifft sie in den Kriegsgebieten Frauen aus allen ethnischen Gruppen. Sie wird hauptsächlich von den RSF ausgeübt, aber auch von der Armee. Die beiden Kriegsparteien wollen den während der Revolution gewachsenen Einfluss der Frauen wieder auf den Status quo ante zurückdrehen. Aber die Frauen bleiben in den Graswurzelbewegungen ein wichtiger Faktor. Ein Zurück zum Status quo ante darf es nicht geben.
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