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Ukraine: Europa fest im Blick
Der Großteil der Ukrainer stärkt der Regierung den Rücken beim EU-Beitritt. Kritische Stimmen gibt es offiziell nur wenige
Wolodymyr Selenskyj und mit ihm die gesamte ukrainische Regierung werden nicht müde zu betonen, dass sie ihr Land in Zukunft am liebsten sowohl als Mitglied der Europäischen Union als auch der Nato sehen. Umfragen ukrainischer Meinungsforscher zeigen, dass eine breite Mehrheit der Gesellschaft diesen Kurs unterstützt.
90 Prozent der Ukrainer seien für einen EU-Beitritt, meldete die Denkfabrik Rasumkow-Zentrum im Mai 2024. Im Dezember 2022 hatte die Zustimmung noch bei 79 Prozent gelegen. Besonders hoch, so die Umfrage, sei die Zustimmung zum EU-Beitritt in der Westukraine und in der Zentralukraine. Unter Ukrainisch sprechenden Ukrainern sei die Unterstützung zehn Prozent höher als unter Russisch sprechenden.
Zu ähnlichen Ergebnissen, aber mit umgekehrten Vorzeichen, kommt die unabhängige Forschungsorganisation Rating Group. Ende November 2023 hätten 78 Prozent der Befragten für den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union gestimmt, falls ein entsprechendes Referendum stattgefunden hätte, berichtet sie. Im Juli 2022 sprachen sich allerdings noch 85 Prozent der Befragten für das europäische Staatenbündnis aus. Am geringsten sei die Zustimmung zu einem EU- und auch Nato-Beitritt bei Bürgern mit einem sehr niedrigen Einkommen, so die Rating Group.
Zweifel an Aussagekraft von Umfragen
Der aus Charkiw stammende Journalist Stanislaw Kibalnyk fragt sich jedoch, inwieweit Umfragen in einem Land repräsentativ sind, in dem man schon wegen eines Likes einen Strafprozess bekommen kann. »Wer wird schon am Telefon einer fremden Person seine Ansichten mitteilen, vor allem, wenn diese nicht mit dem offiziellen Narrativ übereinstimmen?«
Auch der in Odessa tätige Theaterschaffende Nikita Rybatschenko ist skeptisch: »Ich frage mich, was wir von Europa haben. Okay, ich bekomme bei einer EU-Mitgliedschaft das Recht, nach Paris umzuziehen. Heute kann ich das nicht. Aber auch wenn wir in der EU wären, könnte ich nicht einfach nach Paris umziehen. Mit meinem Gehalt von knapp 600 Euro – und ich arbeite sieben Tage die Woche – ist das nicht möglich.«
Rybatschenko fürchtet auch Nachteile für die Wirtschaft: »Wenn wir in der EU sind, müssen wir unsere ganzen Standards anpassen. Und wer seine Standards nicht anpassen kann, der kann auch nicht produzieren. Und wer nicht produzieren kann, muss seine Fabrik schließen. Sehen wir doch mal ins Baltikum. Die haben doch auch viele Fabriken schließen müssen. Das heißt, die jetzt schon herrschende Armut würde noch größer werden.«
Ukrainische Wirtschaft könnte in Europa leiden
Auch außenpolitisch würde eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union die Handlungsfreiheit der Ukraine einschränken. Das sehe man an Ungarn. Das Land müsse sich an Sanktionen beteiligen, die es eigentlich gar nicht will.
»Warum hat Großbritannien die EU verlassen? Weil es keinen Vorteil mehr in einer Mitgliedschaft in der EU gesehen hat. Die EU ist gut für die großen Länder, wie Frankreich und Deutschland. Aber ich sehe nicht, dass es uns besser gehen wird, wenn wir in der EU sind«, meint Rybatschenko.
Dankbarkeit für die Aufnahme Geflüchteter
Ganz anders sieht das Sneschana Jeremenko, Chefärztin der im Zentrum von Odessa tätigen Klinik St. Rafael: »2014 war die ukrainische Gesellschaft in der Frage, ob sie sich der Europäischen Union oder der Zollunion mit Russland anschließen solle, sehr gespalten. Viele, besonders im Osten, wollten eine Annäherung an Russland.« Heute jedoch, so Jeremenko, sei die Situation anders. Heute wolle die Mehrheit eine Mitgliedschaft in der EU. »Wir sind den Ländern der EU dankbar, dass sie so viele Menschen von uns aufgenommen haben, dass unsere Kinder dort lernen und in Sicherheit leben können.« Viele der nach Europa geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich sehr gut in Europa eingelebt haben, fragen sich nun, wie es mit ihnen weitergehen wird, wenn der Krieg zu Ende ist. Viele wollen nicht mehr zurück. »Und für sie wäre natürlich eine ukrainische EU-Mitgliedschaft nützlich, könnten sie doch dann ohne Schwierigkeiten in Europa bleiben.«
Der in Odessa lebende Blogger und Anarchist Wjatscheslaw Asarow unterstützt trotz einiger Bedenken einen EU-Beitritt. »Wenn wir in die EU kommen, werden die Preise noch mal deutlich ansteigen«, fürchtet er. »Allerdings denke ich nicht, dass wir aus unserer schrecklichen Lage alleine herauskommen. Wir haben doch gar keine Wahl. Deswegen sollten wir eine EU-Mitgliedschaft anstreben – und gleichzeitig dafür eintreten, dass diese EU sozial ist.«.
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