Covid-Pandemie: Im Blindflug

Vor fünf Jahren begann die Covid-19-Pandemie und veränderte die Gesellschaft auf drastische Weise. Was ist davon übrig geblieben?

  • Maximilian Hauer
  • Lesedauer: 7 Min.
Normalität unter Bedingungen des Social Distancing: Auch so sah die Pandemie im Mai 2020 in New York City aus.
Normalität unter Bedingungen des Social Distancing: Auch so sah die Pandemie im Mai 2020 in New York City aus.

Ist der Beginn der Corona-Pandemie wirklich schon fünf Jahre her? Oder ist sie vielleicht noch gar nicht vorbei? Die klassische Geschichtsschreibung kann sich an einer Einheit von Raum, Zeit und Handlung orientieren und kommt dabei mit einem begrenzten Figurenpersonal aus. Eine Pandemie ist dagegen ein offener und – wie der Name schon sagt – weltumspannender Prozess, zusammengesetzt aus Milliarden mikrobiologischer Übertragungen und Mutationen, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Ihre unscharfen Konturen erschweren ein adäquates Verständnis.

Auch nach fünf Jahren bleibt Covid ein unheimlicher Schatten vertrauter Zwischenmenschlichkeit und das umso mehr, weil in der Regel längst darauf verzichtet wird, diesen ungebetenen Doppelgänger durch Tests zu stellen, oder ihm etwa durch flächendeckende Luftfilteranlagen beizukommen. Zwar dringen immer wieder verstörende Nachrichten über Long- und Post-Covid in die Öffentlichkeit. Dies scheint aber kein hinreichender Grund mehr zu sein, um irgendetwas am Betriebsablauf zu ändern.

Sensorschicht und Selbsterkenntnis

Das war nicht immer so. Nach seinem ersten Auftreten stand das Virus zwei Jahre im Zentrum der Aufmerksamkeit, bestimmte Politik, Medien und Gespräche. Durch Tests und Nachverfolgung entstand eine engmaschige »Sensorschicht«, wie Benjamin Bratton in seinem Essay »Die Realität schlägt zurück« 2021 schrieb. Dem Technikphilosophen zufolge ermöglichten diese Daten der Gesellschaft, die durch sie hindurchlaufenden, tödlichen Materieströme in Echtzeit zu kartieren, zu antizipieren, geteilte Risiken abzuschätzen – und entsprechend informiert zu reagieren und gegenzusteuern. Die Sensorschicht biete somit ein Instrument zur gesellschaftlichen Selbsterkenntnis und könne als Bestandteil eines kollektiven Immunsystems begriffen werden.

Brattons technokratische Vision verkannte in ihrer Überblendung von Staat und Gemeinwohl die Widersprüche der Klassengesellschaft, ruft aber mit ihrem Ideal der Selbsterkenntnis auch einen kritischen Gedanken auf, um den es heute deutlich schlechter bestellt scheint als im Erscheinungsjahr des Buches. Denn zu den Hochzeiten der Pandemie wurde nicht nur deren jeweils aktuelle Gestalt permanent empirisch vermessen, sondern auch über tieferliegende, systemische Ursachen der Katastrophe nachgedacht.

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Mithilfe der Studien von Rob Wallace oder Mike Davis ließ sich die Pandemie als Ausdruck einer umfassenderen sozialökologischen Krise dechiffrieren. Als gesellschaftlich koproduzierte Naturkatastrophe entfaltete sich die Seuche entlang der Waren- und Menschenströme einer globalisierten Weltwirtschaft und traf auf Gesundheitssysteme, die durch jahrzehntelange Privatisierung und Sparpolitik ausgehöhlt waren. Überdeutlich wurde, dass eine auf Profitproduktion gepolte, in nationalstaatlicher Konkurrenz organisierte Produktionsweise nicht zur »sozialen Ein- und Vorsicht« (Karl Marx) fähig ist.

Aufgrund dessen war in der Anfangszeit häufig die Metapher von der Pandemie als Brennglas zu lesen. Auch die Kulturtheoretikerin Jacqueline Rose sah in ihr ein Ereignis, das dem Bewusstsein unerträgliche, ansonsten verdrängte Aspekte der Welt und der Psyche vor Augen geführt habe, wie es sonst nur die Psychoanalyse tue. Dieser luzide Moment blieb jedoch nicht nur politisch folgenlos, er ist auch längst verstrichen.

Von Eindämmung zu Privatisierung

Für die USA hat der Podcast »Death Panel« diese Verdrängung minutiös nachverfolgt und gezeigt, dass veränderte Wahrnehmungsmuster nicht auf spontane Reaktionen »der Menschen« reduziert werden können. Vielmehr sei von einer »gesellschaftlichen Produktion des Pandemieendes« auszugehen. So folgten Regierungsentscheidungen zur Aufhebung der Maskenpflicht nicht einfach einem skeptischen Volkswillen, sondern sendeten autoritative Entspannungssignale, die ihrerseits zu einem Stimmungswandel beitrugen. Joe Biden verkündete am Amerikanischen Unabhängigkeitstag im Juli 2021 mit einer spektakulären Geste die Unabhängigkeit seiner Nation vom Virus – der tödlichste Pandemiewinter sollte dem Land da erst bevorstehen. Flankiert wurde dies durch eine immer grobkörnigere Datenerhebung – den Rückbau der Sensorschicht – sowie verharmlosende Talking Points über »milde« neue Varianten, Infektionen als Trainingsangebote für das Immunsystem, oder den rein psychosomatischen (lies: eingebildeten) Charakter von Long Covid.

Covid sollte kein öffentliches Ereignis und somit kein Politikum mehr sein, sondern privates Pech.

Nachdem die Impfung sich als technische Universallösung nicht bewährt hatte, zielte die Politik statt auf weitere Eindämmung auf eine Privatisierung der Pandemie. Covid sollte kein öffentliches Ereignis und somit kein Politikum mehr sein, sondern privates Pech. Der Schutz, das Leid und die anfallende Sorgearbeit werden so den Individuen und ihren Familien überantwortet. In den USA führte das proklamierte »Ende« der Krise dazu, dass 25 Millionen Menschen wieder aus dem öffentlichen Medicaid-Progamm geschmissen wurden, das Biden unter dem Eindruck der Pandemie ausgeweitet hatte. Mit diesem Pop-Up-Wohlfahrtsstaat sollte nun ebenso Schluss sein, wie mit der begleitenden Solidaritätsrhetorik. Dass Betroffene von Long Covid derzeit auch in Deutschland vermehrt an einer öffentlichen Repolitisierung der Krankheit arbeiten, ist ein kleiner Lichtblick.

Aufschwung des Libertären

Rückblickend entpuppte sich diese Phase der Rückkehr zur Normalität der Eigenverantwortung ab 2022 als idealer Nährboden für den Aufstieg der Rechten, die während der Hochzeit der Krise blass und kaum sprechfähig gewirkt hatte: Die AfD erreichte bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 die Hälfte ihres jüngsten Ergebnisses. Dagegen offenbarte die Pandemie die Erschöpfung der liberalen Fortschrittserzählung. Während eine optimistische Modernisierungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ausrottung gefährlicher Infektionskrankheiten im Rahmen ausgebauter Wohlfahrtsstaaten anvisierte, soll Covid nun anscheinend als ein weiteres individuelles Lebensrisiko hingenommen werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung brach mit der Pandemie erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg global ein – um 1,6 Jahre. Obwohl es sich bei einer Pandemie offensichtlich nicht um ein individuelles Problem handelt, soll Gesundheit als privater Besitz verstanden werden, den es eigenverantwortlich zu sichern gilt: durch kluge Risikokalkulation, persönliche Schutzvorkehrungen, Sport, gesunde Ernährung, private Vorsorge. Ein Sondervermögen für Luftfilteranlagen scheint dagegen undenkbar – »Sicherheit« meint seit dem erklärten Ende der Pandemie und der Zuspitzung geopolitischer Konflikte nur noch die bewaffnete Sicherung von Territorien und Grenzen.

All dies zeigt auf, wie sehr Warnungen vor einer aufziehenden »biopolitischen« Gesundheitsdiktatur die maßgeblichen Tendenzen verfehlten. Auch wenn vor allem die Form der Maßnahmenpolitik unter demokratischen Gesichtspunkten kritisch untersucht werden muss, will der »libertäre Autoritarismus« (Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey) der Gegenwart das Gegenteil einer Fürsorge-Diktatur. Weidel, Musk und Konsorten vertreten vielmehr eine rücksichtslose Idee negativer Freiheit, die auf das Recht des Stärkeren hinausläuft und allgemeinverbindliche Erkenntnisse und Regeln zerstören will, die dem im Weg stehen.

Wissenschaftsskepsis und vermeintlich subversive Tabubrüche waren daher Wasser auf den Mühlen der Rechten. Doch es wäre zu wohlfeil, allein auf extravagante Spinnereien zu blicken. Wie die Philosophin Alenka Zupančič in ihrem gleichnamigen Essay zeigt, ist der Zeitgeist eher von Verleugnung – »Disavowal« – und nicht so sehr von der Leugnung (»Denial«) bestimmt. Während direkte Leugnung die Existenz eines Phänomens in Abrede stellt, erkennt die Verleugnung ein Faktum nominell an, nimmt ihm jedoch jedes Gewicht: Sie verkündet gerne, »alles über die Fakten zu wissen, und macht dann weiter wie zuvor«. Diese Haltung sei politisch weniger mit dem Rechtspopulismus als mit dem liberalen Mainstream verbunden, wie Zupančič mit Blick auf die Klimakrise ausführt.

Destruktives »Learning«

Für die kommenden Krisen verheißen auch die vermehrten Rufe nach einer »Aufarbeitung der Pandemie«, etwa aus den Reihen des BSW, nichts Gutes. Eine kritische Durcharbeitung der Erfahrungen wäre begrüßenswert. Bei der gegenwärtigen Aufarbeitung handelt es sich jedoch häufig eher um den Versuch, die Ereignisse nachträglich umzuschreiben. Anstatt reale Dilemmata in der Situation selbst anzuerkennen und die weiteren ökonomischen und politischen Ursachen in den Blick zu nehmen, die im Kapitalismus systematisch Krankheit und Leid verursachen, scheint die Prämisse leitend, die Regierungen hätten die Gefahr für Leib und Leben maßlos übertrieben und die rüstigen Bürgerinnen und Bürger getrost früher und konsequenter den Pathogenen ausliefern können. So soll die narzisstische Wunde geschlossen werden, die Ohnmacht und Angst angesichts der Todesgefahr geschlagen haben. Kritisch beobachtet wird dieser »Pandemierevisionismus« etwa von dem Publizisten Paul Schuberth.

Wie es scheint, wird das destruktive »Learning« aus der Covid-19-Pandemie nun auch auf die viel weiterreichende Klimakrise übertragen: Ökologische Krisen sind entweder eingebildet, nicht so schlimm oder unvermeidlich – in jedem Falle entsteht das eigentliche Übel erst durch die Versuche der Politik, den Übeln der Natur Abhilfe zu schaffen, die sie in Wirklichkeit immer nur verschärfen können. Wir müssen der Natur quasi wie im Blindflug ihren Lauf lassen (indem wir sie weiter zerstören). Eine grundkonservative Denkfigur, die sich etwas bei dem Ökonomen Thomas Robert Malthus vorgeprägt findet, der damit um die Wende zum 19. Jahrhundert das zeitgenössische Verhungern der Bauernmassen zur Naturnotwendigkeit, alle revolutionären Bemühungen hingegen zu Illusion erklärte.

Maximilian Hauer veröffentlichte 2023 den Essayband »Seuchenjahre. Orientierungsversuche im Ausnahmezustand« im Mandelbaum-Verlag.

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