Professor Brinkmann würde Burnout kriegen

Mit der Serie »Krank Berlin« erfindet Apple das Medical-Genre nicht neu, fügt ihm aber schmerzhaften Realismus hinzu

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Gezeigt wird dasselbe Durcheinander wie im Gesundheitssystem insgesamt.
Gezeigt wird dasselbe Durcheinander wie im Gesundheitssystem insgesamt.

Die Ruhe im Auge des Sturms ist bekanntermaßen trügerisch. Als Ben Weber nach durchtanzter Clubnacht auf einem Cocktail diverser Drogen den Dienst in seiner überfüllten Notfallambulanz antritt und vorm Zusammenbruch noch eben ein Leben rettet, herrscht plötzlich Stille. Es ist die Stille im Kopf des übernächtigten Arztes, als er bald darauf nicht bloß sinnbildlich, sondern buchstäblich am Tropf hängt. Es ist aber auch die Stille im Fahrstuhl, der Webers neue Vorgesetzte Minuten später an einen Arbeitsplatz abwärts fährt, dessen Geräuschpegel eher an Krieg als an Krankenhaus erinnert.

Vermutlich nennen das Krankenhaus deshalb alle nur »Krank Berlin«. Zumindest am Boden seiner Rettungsstelle nämlich ebben Chaos, Lärm, Tumult und Trubel allenfalls dann ab, wenn sich der gleichnamige Achtteiler gelegentlich ins Innere zentraler Figuren zurückzieht. Ansonsten herrscht vom ersten bis zum letzten Moment dieser aufwühlenden Serie dasselbe Durcheinander wie im Gesundheitssystem insgesamt. Nicht der einzige Grund, warum sie TV-Geschichte schreiben könnte.

Produziert von Violet Pictures mit Real Film für AppleTV+ und ZDFneo, die das Projekt nach dem Rückzug von Sky aus der deutschsprachigen Fiktion geerbt haben, wagt »Krank Berlin« Ungeheuerliches: eine Medical-Serie ohne Halbgötter in Weiß, schmalzfreies Therapytainment, das den Alltag an der medizinischen Front so erschöpfend erzählt, wie er eben ist, aber nicht in Ehrfurcht vor George Clooneys »Emergency Room« erstarrt. Anders als dort sieden die Regisseure Alex Schaad und Fabian Möhrke das Drehbuch des englischen Notfallmediziners Samuel Jefferson also nur selten in Seife.

Ansonsten herrscht vom ersten bis zum letzten Moment dieser aufwühlenden Serie dasselbe Durcheinander wie im Gesundheitssystem insgesamt.

Dafür sorgt schon ihr Ensemble: Slavko Popadić als Borderliner Ben Weber und Haley Louise Jones. Wie ihre Kommissarin Kurt, die dem Kampusch-Keller-Wahnsinn des Netflix-Welterfolgs »Liebes Kind« 2023 mit aufgewühltem Gleichmut begegnete, bleibt auch ihr Charakter Suzanna Parker im Chaos der Neuköllner Notaufnahme meist ruhig. Kurz nachdem sie aus einer profitablen Münchner Geriatrie ans defizitäre Hauptstadtkrankenhaus wechselt, verzieht sich die neue Stationschefin zwar zum Schreien in eine Besenkammer. Zurück im Getümmel aber schaltet sie auf Autopilot und belegt damit das, was ihr ganzes Kollegium kennzeichnet: ungeheure Stress-Resilienz.

Die ist indes auch bitter nötig. Und als der zynische Direktor Beck (Peter Lohmeyer) seine Rettungsstellenleiterin zwischen Routineoperationen und Schussverletzungen mit dem Satz begrüßt, er habe »eher ein Magengeschwür« als Dr. Parkers Dienstantritt erwartet, zeigt ihr neues Team sofort, warum: vom erfahrenen Pfleger Bruno (Robert Nickisch) bis zur altgedienten Stationsärztin Dr. Ertan (Şafak Şengül) erfährt die Neue vor allem Geringschätzung. Und sie wird durch organisatorische Umstrukturierungen gepaart mit einer internen Ermittlung keinesfalls besser.

Als jemand »Dr. Parker« abends im Organigramm durch »Verpiss dich« ersetzt, scheint ihr erster Tag auch der letzte zu sein. Zum Glück aber hat die Serie nicht nur einen Teil, sondern acht. Weshalb die unliebsame Chefin mit dem Messer Titel und Namen in die Schiefertafel graviert und zu Beginn der zweiten Folge wieder auftaucht, um »Krank Berlin« zum Besten zu machen, was das Genre abseits der ZDF-Gebärserie »Push« hierzulande hervorgebracht hat. Dank Fantasieärzten wie »Dr. Kleist« in Fantasiehäusern wie »Klinik am Alex« mit Fantasiestorys wie »Doctor’s Diary« gilt im deutschsprachigen Raum des 21. Jahrhunderts schließlich bereits Hans Sigls »Bergdoktor« als einigermaßen authentisch.

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Mit »Krank Berlin« hält nun plausibel gespielte, gefilmte, ausgestattete Wahrhaftigkeit Serieneinzug ins Genre. Schließlich erinnert das deutsche Krankenhaus im Herzen der Stadt 46 Jahre, nachdem das tschechische »Krankenhaus am Rande der Stadt« die TV-Medizin versachlichen half, zumindest innerlich an die Charité. Gedreht im äußerlich verwilderten SEZ aus DDR-Zeiten stapelt Apple die Probleme dort wie echte Notaufnahmen Kranke: Personalmangel, Kompetenzgerangel, Aufputschmittel, dazu Schwerverletzte, Obdachlose, Simulanten und eine IT, die sogar noch öfter streikt als BVG-Angestellte. Professor Brinkmann hätte hier keinen Tag überlebt.

Dr. Parker, so viel sei verraten, hält die knappen acht Stunden Streaming einer fiebrig fotografierten Realfiktion durch, die kaum etwas so gut auf den Punkt bringt wie der Auftakt zur vierten Folge: Hinter einem Vorhang erwartet das Personal von Dr. Parker ihre Chefin da mit Torte, Kerzen und »Happy Birthday« im Chor. Alles bester Ordnung also zur Serienhalbzeit? Mitnichten. Denn Sekunden später erwacht sie aus ihrem Tagtraum im nachtgrauen Klinikalltag einer stichhaltigen Unterhaltungsserie, die ihr Genre aufs nächsthöhere Niveau hebt. Wurde auch Zeit.

Verfügbar auf Apple TV+ (in einem Jahr auf ZDFneo)

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