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Kurden in Syrien: Einigung für Einheit
Kurden verständigen sich mit Übergangsregierung in Damaskus auf Eingliederung in den syrischen Staat
Der syrische Übergangspräsident, Ahmad Al-Scharaa, und der Generalkommandeur der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mazlum Abdi, haben am Montag in Syrien ein weitreichendes Abkommen zur Zukunft Syriens unterzeichnet. In acht recht kurz gehaltenen Artikeln halten Al-Scharaa und Abdi darin vor allem eines fest: den gemeinsamen Weg vorwärts.
Noch bevor mehr als diese kurze Nachricht und zwei Bilder von Al-Scharaa und Abdi veröffentlicht wurden, kam es in allen Landesteilen zu spontanen Feiern. Auch in den Städten der Selbstverwaltung selbst, wie Rakka, Heseke oder der höchst symbolischen Stadt Kobanê an der Grenze zur Türkei, kam es zu Freudenfeuern.
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Wegweisende Einigung mit den Kurden
Wenngleich das Abkommen an sich noch wenige konkrete Schritte enthält, handelt es sich dennoch um eine wegweisende Einigung zwischen den beiden größten verbliebenen Parteien des Bürgerkriegs in Syrien nach dem Ende des Assad-Regimes. Der wohl wichtigste Punkt, die Zukunft der SDF als militärische Einheiten, wurde schon zuvor sowohl innerhalb des Landes als auch darüber hinaus immer wieder diskutiert. In dem Abkommen ist klar von einer »Integration« aller zivilen und militärischen Institutionen in Nordostsyrien in die des syrischen Staates die Rede.
Zuvor hatten etwa die Türkei, aber auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die SDF aufgefordert, alle Waffen niederzulegen – was von der kurdisch geführten Militärallianz vehement abgelehnt wurde. Noch ist unklar, in welcher Form die immerhin knapp 100 000 Mitglieder der SDF in die Struktur der syrischen Armee eingegliedert werden könnten. Möglich wäre neben der Integration als Block auch eine Integration als territorial gebundene Brigaden. Dass sie aber ihre Waffen kollektiv abgeben, ist mit dieser Vereinbarung wohl erst mal vom Tisch.
Auf ziviler Ebene könnte das Abkommen zwischen den auch von Fläche und Einwohnerzahl her größten Gruppen in Syrien ein Vorbild sein für andere Regionen und weit über die aktuell militärisch von den SDF kontrollierten Gebiete hinausgehen. Neben der Anerkennung der Kurd*innen als integraler Bestandteil der syrischen Nation umfasst das Abkommen eine generelle Klausel gegen alle Versuche, Zwietracht zu säen zwischen »allen Teilen der syrischen Gesellschaft«.
Ein solches Zugeständnis zu diesen »Teilen« der syrischen Gesellschaft wäre dem alten Regime wohl kaum über die Lippen gekommen. Auch die erste Klausel, die allen Syrern unabhängig von religiöser und ethnischer Zugehörigkeit das Recht auf politische Vertretung und Teilnahme am politischen Prozess zusichert, mag erst mal nur auf dem Papier stehen, öffnet aber die Tür für eine veränderte Rolle der verschiedenen Minderheiten in Syrien.
Kurdische Selbstverwaltung wird gestärkt
Gerade im Hinblick auf die Massaker an alawitischen Zivilist*innen mit über 1000 Toten wäre dies ein Quantensprung. Die Außenbeauftrage der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, Elham Ahmed, erklärte dazu auf dem Kurznachrichtendienst X, das Abkommen sei auch ein Schritt, die »schmerzlichen Ereignisse, die unser Volk an der Küste erlebt hat«, zu beenden. Tatsächlich hatte Al-Scharaa schon Stunden, bevor das Abkommen veröffentlicht wurde, die Militäroperation in den Küstenregionen für beendet erklärt. Am Dienstag setzte er laut Medienberichten eine unabhängige Untersuchungskommission ein, die die Angriffe auf Zivilisten wie Sicherheitskräfte untersuchen solle.
Auch für die drusischen Regionen im Süden des Landes an der Grenze zu Israel und Jordanien könnte das Abkommen als Blaupause dienen. Dort hatten sich in den vergangenen Wochen immer mehr bewaffnete Verbände zusammengeschlossen und ihre Autonomie bekräftigt, vereinzelt kam es sogar zu Gefechten mit Kräften der HTS.
Während die Führung in Damaskus noch keine genaueren Angaben zum weiteren Vorgehen machte, erklärte Salih Muslim, Sprecher für auswärtige Beziehungen der Partei der Demokratischen Union (PYD), es werde nun pro Klausel des Abkommens je eine spezialisierte Kommission gegründet, die sich mit der Ausarbeitung befasse. Ziel sei es, bis Ende des Jahres das Abkommen umzusetzen.
Mit dem Abkommen hat die neue syrische Regierung in der größten bislang unbeantworteten Frage bezüglich der Zukunft Syriens einen großen Schritt nach vorne gemacht. Zwar war eine militärische Lösung zwischen HTS und SDF nie wahrscheinlich, schon weil die Auseinandersetzung vermutlich Monate gedauert hätte und der Ausgang unklar gewesen wäre. Allerdings war bislang auch unklar, ob die neue Regierung Zugeständnisse in Fragen der Freiheiten für ethnische und religiöse Minderheiten machen würde.
Für die Selbstverwaltung geht mit der Vereinbarung tatsächlich ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung. Mit Assad hatte es immer wieder Versuche gegeben, zu einem solchen Abkommen zu gelangen, allerdings scheiterten diese schon immer bei den ersten Schritten. Gerade die Rückkehr aller Vertriebener in ihre Heimat dürfte ein großer Erfolg für die Selbstverwaltung sein. Im Laufe des Krieges sind Hunderttausende in die Regionen gekommen, gerade auch aus den von der Türkei besetzen Gebieten.
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