- Politik
- Argentinien
Argentinien: »Über fünf Millionen Rentner sind arm«
Eugenio Semino über die Defizite des argentinischen Rentensystems
Herr Semino, haben Sie vergangenen Mittwoch vor dem Kongress demonstriert?
Ja, der Protest findet jeden Mittwoch statt und ich gehe hin, wann immer ich kann. Normalerweise sind wir nur 20 oder 30 Leute, aber dieses Mal war es ein sehr trauriger Tag für mich. Ob Fußballanhänger oder nicht, es waren viele gewaltbereite Personen unterwegs. Aber Gewalt ist ebenso wenig förderlich wie die massive Repression. Was geschah, ist eine echte Schande. Die Situation der Rentner ist schon seit Jahrzehnten schlecht.
Eugenio Semino ist der Leiter der Ombudsstelle für Senioren in der Stadt Buenos Aires. Die Defensoría de la Tercera Edad ist eine unabhängige Behörde, deren Einrichtung in der Verfassung der Stadt verankert ist. Mit ihm sprach für »nd« Jürgen Vogt.
Sind die Proteste nicht genauso alt?
Die Märsche der Rentner begannen in den 1990er Jahren und richteten sich gegen die geplante Privatisierung des Rentensystems durch die damalige Regierung von Präsident Carlos Menem (1989–99) und für eine Erhöhung der Mindestrente. Das Paradoxe war, dass viele Gewerkschaften die Privatisierung befürworteten und gegen die Proteste waren. Sie schickten gewaltbereite Fangruppen, um die Rentner zu verprügeln. Bis zu 50 000 Menschen marschierten vom Kongress zur Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast. Damals war ein Peso einen Dollar wert und die Mindestrente lag bei 150 Pesos. Gefordert wurden 450 Pesos, was dem Wert des damaligen Grundwarenkorbs entsprach. Damals erhielten jedoch nur 17 Prozent der Rentner eine Mindestrente. Heute müssen sich fünf Millionen der 7,5 Millionen Rentner mit der Mindestrente begnügen. Das ist ein Anteil von knapp 70 Prozent.
Ist das genug zum Leben?
Die Mindestrente liegt deutlich unter der Armutsgrenze. Im Februar lag der Wert des Basiswarenkorbs eines Rentners bei 1,2 Millionen Pesos. Die Mindestrente beträgt jedoch nur 280 000 Pesos (derzeit etwa 270 US-Dollar, d. Red.). Hinzu kommt ein monatlicher Bonus von 70 000 Pesos. Wir haben also fünf Millionen Rentner, die mit ihrer Rente zu den Armen gehören. Und die anderen 2,5 Millionen sind nicht viel besser dran.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
In der Vergangenheit hat die Inflation stets die Kaufkraft der Einkommen untergraben. Was bedeutet das für die Rentner?
Die aktuelle Rentenberechnungsformel ist seit 2021 in Kraft und hat keine Inflationsschutzklausel. Um der galoppierenden Inflation wenigstens etwas entgegenzusetzen, wurden Bonuszahlungen eingeführt. Zuvor wurden diese nur sporadisch und zu besonderen Anlässen gezahlt. Statt die Formel an die Inflation zu koppeln, sind Bonuszahlungen zur Regel geworden, deren Höhe von der Regierung nach eigenem Ermessen festgelegt wird. Die Boni wurden vor den Präsidentschaftswahlen 2023 angehoben und dann wieder gesenkt. Unterm Strich wurden die Renten im Jahr 2023 um 140 Prozent erhöht, während die allgemeine jährliche Inflation 211 Prozent und bei Medikamenten sogar 300 Prozent betrug. Diesen massiven Kaufkraftverlust konnten die Rentner bis heute nicht ausgleichen, auch wenn die monatliche Inflationsrate im Februar unter die Drei-Prozent-Marke fiel. Technisch gesehen gibt es in Argentinien kein Rentensystem mehr.
Und warum gibt es kein Rentensystem?
Wir haben ein Plateau von fünf Millionen Rentnern, deren Leistungen im Ermessen der jeweiligen Regierung liegen und nicht aufgrund ihrer Rechte als ehemalige Arbeitnehmer oder Beitragszahler. Um ein ernsthaftes Sozialversicherungssystem zu schaffen, müssten wir unser Arbeitsrecht ändern, das noch aus den 1970er Jahren stammt. Wir sind von der Robotik zu Computern und künstlicher Intelligenz übergegangen, gehen aber immer noch davon aus, dass wir ein fordistisches Produktionsmodell mit vielen aktiven Arbeitnehmern haben. Solange ein funktionierendes Sozialversicherungssystem aber nicht verwirklicht ist, müssen wir aus dem Staatshaushalt Mittel für Rentner bereitstellen, die heute nicht genug zu essen haben und ihre Medikamente nicht kaufen können.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.