Historisch verblendet

Die Hansestadt Hamburg hat nur wenig Interesse an einer Aufarbeitung seines kolonialen Erbes

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 7 Min.
Eine Statue von Otto von Bismarck im Hamburger Stadtteil Altona wurde Ziel von Farbattacken.
Eine Statue von Otto von Bismarck im Hamburger Stadtteil Altona wurde Ziel von Farbattacken.

Der Platz im Hamburger Stadtteil Uhlenhorst ist nur die Aussparung zwischen einer Straße und einem Kanal. Niemand wohnt hier, der sich hätte beschweren können, dass sich die Adresse nach 18 Monaten schon wieder ändert. Im Januar 2020 wurde der Platz Emily Ruete gewidmet. Zur Begründung hieß es damals, Ruete sei »ein wunderbares Beispiel für eine starke Frau, die trotz widriger Umstände in der Fremde ihr Leben gelebt hat«. Inzwischen ist man von dieser Auffassung abgerückt.

Emily Ruete wurde 1844 als Sayyidah Salme auf der ostafrikanischen Insel Sansibar geboren. Ihre aus dem Kaukasus verschleppte Mutter war eine der 75 Frauen im Harem des Sultans. Die Prinzessin lernte 1866 den Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete kennen, der in einem dem Sultanspalast benachbarten Gebäude wohnte. Von ihm wurde Salme schwanger. Der drohenden Steinigung entkam sie und floh nach Aden im Jemen. Dort konvertierte sie vom Islam zum Christentum und nahm den Namen Emily an. Ruete heiratete sie im Mai 1867.

In Hamburg erregte die Liebesgeschichte aus 1001 Nacht Aufsehen, und Emily wurde in der feinen Gesellschaft herumgereicht. Doch schon im August 1870 war das Märchen vorbei, als Heinrich Ruete bei einem Unfall umkam. Der Witwe stand keine Erbschaft zu, und aus Sansibar, wo inzwischen einer ihrer Brüder herrschte, hatte sie keine Unterstützung zu erwarten. Emily Ruete brachte sich und ihre drei Kinder mit Arabisch-Unterricht in Dresden, Berlin, Rudolstadt und Köln durch. 1886 schrieb sie die »Memoiren einer arabischen Prinzessin«. Dass sie als erste Frau aus der muslimischen Welt eine Autobiografie veröffentlicht hat, wurde 134 Jahre später als Argument für ihre Ehrung angeführt.

Emily Ruete
Emily Ruete

Sorgfältig gelesen hatte man die zwei Bände offenbar nicht. Neben Spitzen gegen die Briten, die Bismarck gefallen haben dürften, findet sich dort auch eine Rechtfertigung für Sklaverei, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt: »Der Neger liebt vor allem die Bequemlichkeit und geht nur zur Arbeit, wenn er muss (...). Aus dem Einsperren macht sich ein solcher Mensch nichts; im Gegenteil, es würde ihn überaus angenehm berühren, wenn er ein paar Tage an einem kühlen Orte, nur mit Unterbrechung der Mahlzeiten, die Zeit verträumen und verschlafen dürfte, um dann neu gestärkt seine bösen Wege fortzusetzen. (...) Unter diesen Umständen bleibt nur ein heilsames Auskunftsmittel: die Prügelstrafe.«

Emily Ruetes Verklärung als »frühe Feministin« macht ihren Rassismus nicht wett. Also verschwand ihr Name wieder vom Straßenschild. Der Platz am Kanal wurde im September 2022 neu benannt nach Teressa Scira, dem Kind einer polnischen Zwangsarbeiterin, das im Dezember 1943 nur zwei Tage nach der Entbindung in der nahegelegenen Frauenklinik Finkenau gestorben war.

Der Fall Emily Ruete zeigt beispielhaft die Verwerfungen im Umgang mit der Kolonialgeschichte in Hamburg. Irgendwie nimmt man sich des Themas an, aber allzu genau hingesehen wird nicht. Es gibt zwar schon länger ein Erinnerungskonzept der Stadt und auch die Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« wurde geschaffen, die fristet allerdings zunehmend ein Nischendasein.

Vorschläge für einen konstruktiven Umgang mit diesem Erbe hat dagegen die Historikerin Tania Mancheno gemacht. Sie verfasste 2021 ein Gutachten über die in Ungnade gefallene Prinzessin Emily Ruete und kritisiert, dass nach ihr ein Ort benannt worden ist. Die Mitarbeiterin der Forschungsstelle regt in der Schrift auch dazu an, »demokratische Erinnerungslandschaften« zu schaffen. Der Vespucci-Platz, der einem Seefahrer und Kolonialverbrecher gedenke, »welcher außerdem bereits im Namen eines Gebäudes in der Hafen-City erinnert wird«, sollte darin nicht vorkommen. Im jüngsten Stadtteil Hamburgs werden obendrein Ferdinand Magellan und Vasco da Gama gewürdigt – als »Erkunder weltweiter Handelswege« oder »portugiesischer Seefahrer«, ohne dabei allerdings ihre Rolle als Wegbereiter des Kolonialismus zu thematisieren. Die Hansestadt scheint noch immer weit entfernt von einer Aufarbeitung des kolonialen Erbes zu sein.

Der Vespucci-Platz liegt im Osten des Baakenhafens. Bis 1999, als die wirtschaftliche Nutzung dieses Gebiets eingestellt und die Planung der Bebauung als Hafen-City begann, war er das »Tor nach Afrika«. Aber nicht nur Handelsschiffe der Firmen Laeisz, Woermann und Ohlendorff legten hier an, um Kaffee, Tabak, Zucker oder Kautschuk einzuführen. Ab 1900 wurden hier Soldaten und Militärmaterial abgefertigt. Etwa nach Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, wo sogenannte »Schutztruppen« zwischen 1904 und 1908 den Genozid an den Herero und Nama verübten. Nichts mahnt im neuen Wohngebiet daran. Ein Gedenkort ist nicht vorgesehen.

Im Baakenhafen liefen auch jene Schiffe aus, die ein kaum beleuchtetes Kapitel der Kolonialgeschichte betreffen: die Auswanderung in unerschlossene Weltgegenden. 1845 kamen die meisten Hamburger Übersee-Importe aus Brasilien. Der Anwalt Karl Sieveking regte dazu an, die auf der Hinfahrt leeren Schiffe mit Siedlern zu füllen. Bis 1888 beförderte der »Colonisations-Verein von 1849« 17 408 Kolonisten nach Südamerika. Sie exportierten freilich auch deutsche Vorstellungen von Zivilisation.

2014 hatte der Senat ein »Erinnerungskonzept« unter der Überschrift »Hamburg dekolonialisieren!« beschlossen. Ein fünf Jahre später eingesetzter Beirat legte 2021 ein »Eckpunktepapier« vor, das hochtrabende Aufgaben und Ziele formulierte, aber kaum Wirkung erzielte. Hinsichtlich der in die Kritik geratenen Straßennamen weist der zuständige Kultursenator Carsten Brosda (SPD) alle Verantwortung von sich: Das sei Sache der Bezirke. Immerhin wurde die Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« eingerichtet und der Universität angegliedert. »Das koloniale Erbe gehört zur DNA der Stadt«, sagt der Leiter der Forschungsstelle, Jürgen Zimmerer. »Sie können in Hamburg keine 200 Meter laufen, ohne an einem kolonialen Erinnerungsort vorbeizukommen – wenn Sie ihn denn erkennen als solchen.«

Die Liste solcher Orte ist lang und reicht weit in der Zeit zurück. Am 31. August 1773 erschien in der Zeitung »Wandsbecker Bothe« das vermutlich erste deutsche Gedicht gegen die Sklaverei: »Weit von meinem Vaterlande / Muss ich hier verschmachten und vergehn; / Ohne Trost, in Müh und Schande«. Der Verfasser Matthias Claudius ist besser bekannt für sein dutzendfach vertontes »Abendlied« (»Der Mond ist aufgegangen ...«).

Die Pointe des Klagelieds »Der Schwarze in der Zuckerplantage« ist, dass die Zeitung, die es druckte, von Heinrich Carl Schimmelmann finanziert wurde. Er galt als der reichste Mann Europas und hatte sein Vermögen unter anderem mit Sklavenarbeit auf Plantagen in der Karibik gemacht. Mit dem Brandzeichen »BvS« markierte der Baron seinen menschlichen Besitz. Die Hautfarbe war ihm bei der Ausbeutung egal: In seinen Manufakturen in Ahrensburg und Wandsbek woben Waisenkinder Kattun aus der von Schwarzen geernteten Baumwolle.

In Wandsbek, das ab 1762 Schimmelmann gehörte und seit 1937 ein Stadtteil von Hamburg ist, wurde 2006 eine Büste des Barons aufgestellt. Nachdem sich dagegen Protest erhob und das Denkmal mit roten Farbbeuteln beworfen wurde, räumte man es 2008 wieder ab. In Sichtweite erhalten ist das Mausoleum mit Schimmelmanns Gebeinen. Außerdem tragen eine Straße, ein Stieg sowie eine Allee noch immer seinen Namen.

Um das koloniale Erbe im Stadtbild sichtbar zu machen, entwickelte die Forschungsstelle die App »Koloniale Orte«. Bei der Präsentation im Mai 2023 erklärte die für Wissenschaft zuständige Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne), mit der App könne man sich »interaktiv auf Spurensuche begeben und die viel zu lange unsichtbaren dunklen Kapitel unserer Geschichte endlich sichtbar machen«.

Nur wer die App nutzt, kann Gebäude, Denkmäler und Straßen als Zeichen kolonialer Vergangenheit lesen. Alle anderen erfahren dazu nichts. Wie die Touristen zu Füßen der Statue unweit des Hafens, mit der Otto von Bismarck geehrt wird; der Reichskanzler war einer der Protagonisten des Kolonialismus. 1884 lud Bismarck zur »Kongokonferenz« nach Berlin, auf der die europäischen Mächte berieten, wie sie den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten. Das 1906 eingeweihte, knapp 15 Meter hohe Monument, auf dem der »Eiserne Kanzler« mit Schwert den Hafen überblickt, wurde 2020 für rund zehn Millionen Euro renoviert.

Während der Sanierung bekundete Senator Brosda: »Die Bismarck-Statue kann nicht einfach unkommentiert im Stadtbild stehen«. Doch genau das tut sie. Ein Wettbewerb zur künstlerischen »Kontextualisierung« des Monuments scheiterte im Juli 2023, weil keiner der 78 eingereichten Entwürfe von der Jury angenommen wurde. Seither informiert nicht einmal eine Tafel am Sockel des Standbilds, wen es überhaupt darstellt.

Am 17. Dezember 2024 beschloss die Hamburger Bürgerschaft der Forschungsstelle die Mittel zu kürzen und als selbständige Einheit aufzulösen. Ob das fehlende Geld durch Drittmittel ersetzt werden kann, steht in den Sternen. Seine beiden Mitarbeiter könne er jedenfalls nicht mehr voll weiterbeschäftigen, erklärt Forschungsleiter Jürgen Zimmerer. »Die AfD jubiliert und schreibt sich den Erfolg auf ihre Fahnen«, sagt er. »Ein fatales Zeichen für kritische Wissenschaft und für die Wissenschaftsfreiheit an sich.«

Unweit des Rathauses bewacht weiterhin ein schwarzer Krieger mit Speer das »Afrikahaus« der Firma Woermann – und kein Tourist, der ihn fotografiert, erfährt von dem Blut, mit dem die Statue bezahlt wurde.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.