- Politik
- Naher Osten
Libanon: Auferstanden aus Ruinen?
Im Libanon keimt nach Waffenruhe und neuer Staatsführung Hoffnung auf. Ob sie erfüllt wird, ist offen
Seit Jahren gilt der Libanon als »Failed State«, als gescheiterter Staat. Und die von Kriegen und Krisen, Korruption und Katastrophen geprägte Realität scheint diese Annahme zu bestätigen. Zuletzt keimte in der krisenmüden Gesellschaft jedoch Hoffnung auf, seit Ende November ein Waffenstillstandsabkommen den Krieg mit Israel beendete und nach Jahren der Lähmung ein neuer Präsident und ein neuer Premierminister gewählt wurden. Steht das kleine, multikonfessionelle Land also vor dem Abgrund oder vor einem Aufbruch?
Konfessioneller Proporz
Seine Unabhängigkeit erlangte der unter französischer Kolonialherrschaft entstandene libanesische Staat 1943. Einflussreiche Vertreter der von Frankreich privilegierten christlichen Maroniten sicherten ihrer Konfession in einem »Nationalpakt« mit Vertretern muslimischer Konfessionen die politische Vorherrschaft. Dabei wurde politische Repräsentation und Macht entlang konfessioneller Linien vergeben, proportional zu den tendenziösen Ergebnissen des einzigen je durchgeführten Zensus, der der christlichen Bevölkerung eine Mehrheit im Parlament sicherte. Die Maroniten stellten den Präsidenten, die Sunniten den Premierminister und die Schiiten den Parlamentspräsidenten. Dieses konfessionelle Proporzsystem charakterisiert das Land bis heute.
Nach Erlangung der Unabhängigkeit verfolgte der Libanon eine ultraliberale Wirtschaftspolitik, Beirut zog Milliarden Petrodollars an und expandierte zum führenden Banken-, Handels- und Dienstleistungszentrum der Region. Zugleich blieben die quasifeudalen Verhältnisse in der Politik bestehen; eine kleine Oligarchie eng verbundener Familien dominierte nahezu alle Wirtschaftsbereiche. Der Wohlstand beschränkte sich auf die Ober- und Mittelschicht in Beirut und den angrenzenden, christlich dominierten Bergregionen, während die schiitische Bevölkerung, rund ein Drittel aller Staatsbürger*innen, überwiegend arm und marginalisiert blieb. Diese Ungleichheiten kulminierten, verknüpft mit Konflikten um die geopolitische Ausrichtung des Landes, 1958 in einen dreimonatigen Bürgerkrieg, der – nach der ersten US-Militärintervention im arabischen Raum – mit der Ernennung des Armeegenerals Fuad Schihab zum Präsidenten endete.
Schihab veranlasste die Stärkung staatlicher Institutionen und umfassende Reformen für einen sozioökonomischen Ausgleich, besonders durch Infrastrukturmaßnahmen in den Peripherien. Doch diese Reformbestrebungen scheiterten am Widerstand der etablierten Eliten, die ihre Pfründe und das nepotistische System erfolgreich verteidigten.
Zusätzlich politisierte und radikalisierte die arabische Niederlage im Sechstagekrieg 1967 die Öffentlichkeit – gerade in Beirut, dem damaligen Zentrum politischer Bewegungen, Dissident*innen und Künstler*innen der arabischen Welt. Die progressiven Kräfte solidarisierten sich mit dem Freiheitskampf der Palästinenser*innen, von denen Hunderttausende in libanesischen Flüchtlingslagern lebten. Konservative christliche Gruppen hingegen sahen in deren Anwesenheit – und in den palästinensischen Guerillas, deren bewaffnete Operationen gegen Israel das staatliche Gewaltmonopol unterliefen – eine Gefahr für das politische System, in dem sie selbst eine privilegierte Stellung einnahmen.
Bürgerkrieg und Nachkriegsordnung
Die wachsende politische Polarisierung mündete 1975 erneut in einen Bürgerkrieg. Dabei gelang alten Eliten wie neuen Warlords eine Konfessionalisierung des Konflikts, nicht zuletzt durch Massaker an andersgläubigen Zivilist*innen. Syrien und Israel begannen in dieser Zeit, weite Landesteile für Jahrzehnte zu besetzen.
Erst das 1990 von Saudi-Arabien vermittelte Taif-Abkommen beendete den 15-jährigen Bürgerkrieg, der rund 100 000 Tote und 900 000 Vertriebene hinterließ. Mit dem Abkommen wurde eine parlamentarische Parität christlicher und muslimischer Abgeordneter vereinbart, die vage Absicht, den politischen Konfessionalismus schrittweise abzuschaffen, und die Entwaffnung aller Milizen mit Ausnahme der gegen Israels anhaltende Besatzung Südlibanons kämpfenden Hisbollah.
Doch die politische Elite, der durch ein Amnestiegesetz der straflose Übergang in die Nachkriegszeit gelang, hatte nie vor, den Konfessionalismus tatsächlich abzuschaffen. Im Gegenteil: Sie nutzte die vom milliardenschweren Unternehmer und späteren Premierminister Rafiq Al-Hariri angestoßene neoliberale Agenda, um den Staat gemeinsam auszuplündern und das konfessionalistische und neofeudale System zu festigen.
Hisbollahs militärischer Widerstand zwang Israel im Jahr 2000, die Besetzung des Südlibanon zu beenden, was der mit Syrien und Iran verbündeten schiitischen Partei und Miliz einen großen Zuwachs an Popularität und Einfluss verschaffte.
2005 löste die Ermordung Rafiq Al-Hariris Massenproteste aus, die zum Ende der syrischen Besatzung des Landes führten. Diese »Zedernrevolution« zog aber auch die Spaltung der politischen Klasse in ein prowestliches und ein proiranisches Lager (»Achse des Widerstands«) nach sich, was zur Paralyse des auf Konsensfindung beruhenden politischen Systems führte. Im Ergebnis wurde die korrupte Selbstbereicherung zum kleinsten gemeinsamen Nenner der Eliten, während die Bevölkerung immer stärker unter der Misswirtschaft litt.
Massenproteste und Staatszerfall
2019 flammten erneut konfessionsübergreifende Massenproteste gegen das Regime auf. Doch den Eliten gelang es auch diesmal, Reformen zu verschleppen und das Momentum der Proteste zu brechen. Zeitgleich verursachten ihre korrupten Finanzpraktiken eine massive Wirtschafts- und Finanzkrise, in deren Verlauf die Inflation die Mittelschicht pulverisierte und der bankrotte Staat selbst die Grundversorgung nicht mehr gewährleisten konnte. Drei Viertel der Bevölkerung rutschten unter die Armutsgrenze. Die Explosion im Beiruter Hafen 2020 verheerte die Hauptstadt zusätzlich.
Der jüngste Krieg zwischen Hisbollah und Israel spitzte die Situation weiter zu. Kurz nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 eröffnete die schiitische Miliz durch begrenzten Beschuss des israelischen Nordens eine zweite Front. Der Konflikt blieb überwiegend auf die Grenzregion beschränkt, bis im September 2024 Israels »Pager-Angriffe« sowie die folgenden Luftangriffe und der erneute Einmarsch der israelischen Streitkräfte den Krieg im gesamten Land eskalierten. Dabei wurden ein Großteil der Führungsriege der Hisbollah, darunter ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah, sowie Hunderte Zivilist*innen getötet. Massiv geschwächt, stimmte die Miliz im November 2024 einem Waffenstillstand zu.
Dieser Waffenstillstand fußt auf der UN-Resolution 1701 und umfasst die Einrichtung einer Pufferzone, aus der die Hisbollah-Miliz sich zurückziehen muss, sowie den Abzug der israelischen Streitkräfte. Die libanesische Armee und die Interimstruppe der Vereinten Nationen im Libanon (Unifil) sollen die Waffenruhe gewährleisten, ein internationales Komitee soll deren Umsetzung überwachen. Dringend benötigte internationale Finanzhilfen sind dabei an die Wiederherstellung des libanesischen Gewaltmonopols und damit die Entwaffnung der Hisbollah geknüpft.
Trotz des Abkommens greift Israel weiterhin jeden Tag Ziele im Libanon an. Auch ein vollständiges Ende der Besatzung Südlibanons lehnt die Netanjahu-Regierung ab.
Abbruch oder Aufbruch?
Dennoch befinden sich seit dem Abkommen weite Teile der libanesischen Gesellschaft in Aufbruchstimmung. Diese wurde dadurch beflügelt, dass sich die Parlamentarier*innen nach Jahren politischer Blockaden auf die Wahl des ehemaligen Armeechefs Joseph Aoun zum neuen Präsidenten und des ehemaligen Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs Nawaf Salam zum neuen Premierminister einigten.
Die neue Regierung muss nun möglichst viele Kräfte hinter sich versammeln, um grundlegende Reformen durchzusetzen. Die USA und Saudi-Arabien, deren Druck die Präsidentenwahl erst ermöglichte und von deren Unterstützung Libanon finanziell abhängig ist, drängen – wie auch Israel – darauf, Iran und Hisbollah zu marginalisieren. Doch als größte Vertreter der schiitischen Bevölkerung sind Hisbollah und die mit ihr verbündete Amal-Bewegung politisch zu bedeutsam, als dass sie einfach isoliert oder ignoriert werden könnten. Mittlerweile wird indes ihre Rolle und Verantwortung viel offener diskutiert – auch innerhalb der Hisbollah selbst, die sich nach ihrer militärischen Niederlage neu erfinden muss.
Die Zivilgesellschaft fordert derweil ein Ende der israelischen Besatzung, den landesweiten Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur, eine gerechtere Verteilung der Lasten der Finanzkrise, die juristische Aufarbeitung der Hafenexplosion und eine Reform des politischen Konfessionalismus. Letztere umfasst ein säkulares Modell, das auf gleichen Bürger- und Stimmrechten, einer unabhängigen Justiz und der Bekämpfung des Klientelismus beruht. Diese Forderungen umzusetzen dürfte Salams Regierung angesichts der zunehmenden globalen Missachtung des Völkerrechts, der Kürzung von Entwicklungsgeldern und des Widerstands lokaler Eliten nicht leichtfallen.
So befindet sich Libanon wieder einmal am Scheideweg. In der Vergangenheit scheiterte die Durchsetzung einer gerechteren Gesellschaftsordnung immer wieder an vier strukturellen Kontinuitäten: der hartnäckigen Verteidigung der Interessen der Eliten, der Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung, der ausländischen Einflussnahme und der Aufrechterhaltung des konfessionalistischen politischen Systems. Inwiefern es der neuen Regierung und der Zivilgesellschaft gelingen wird, den gordischen Knoten dieser Herausforderungen zu lösen, ist ebenso offen wie der Ausgang der für Mai 2026 angesetzten Parlamentswahl.
In dieser Wahl aber könnte der Schlüssel für den herbeigesehnten Wandel liegen. Denn die Bevölkerung ist der innenpolitischen Blockaden ebenso überdrüssig wie der andauernden Interventionen von außen. Und sie ist zugleich in hohem Maße politisiert und mobilisierbar – nun gilt es, dieses Momentum für glaubhafte Reformen und den Abbau des konfessionellen Systems zu nutzen.
Eine erfolgreiche Umsetzung dieser Schritte hat zwei Voraussetzungen: Zum einen muss die internationale Gemeinschaft äußere Einmischungen in die libanesische Politik endlich unterbinden und glaubhaft die territoriale Integrität Libanons gewährleisten. Und zum anderen muss die libanesische Regierung ein realistisches Reformprogramm entwickeln, das von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Nur dann kann ein Politikwechsel im Libanon gelingen.
Corinna Bender leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut, Jan Altaner ist Doctoral Fellow am Orient-Institut Beirut.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.