- Politik
- Verhaftung İmamoğlus
Die Türkei zwischen Straßenkampf und Wahlurne
Bei den Protesten gegen die türkische Regierung muss die Opposition unter Beweis stellen, auf welcher Seite sie steht
»Vertraut der Straße, nicht den Wahlurnen« steht auf den Transparenten der türkischen Studierenden, die seit einer Woche landesweit demonstrieren. Was als Protest gegen die Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu begann, hat sich in kürzester Zeit zur größten Protestbewegung seit dem Gezi-Aufstand von 2013 entwickelt. Während die Justiz İmamoğlu Korruption und Terrorunterstützung vorwirft, ist der Opposition das politische Motiv dahinter klar: Hier soll der Politiker aus dem Weg geräumt werden, der bei der nächsten Präsidentschaftswahl die besten Chancen hätte, Präsident Erdoğan zu besiegen.
Die Forderungen der hunderttausend Demonstrant*innen, die sich jeden Abend vor dem Istanbuler Rathaus in Saraçhane und in vielen anderen Städten versammeln, gehen über die Freilassung des Bürgermeisters hinaus: Sie wollen den sofortigen Rücktritt der Regierung. Doch welche Strategie verfolgt İmamoğlus Partei, die CHP, und welche Perspektive haben die Straßenproteste?
Verhaftung kam wenig überraschend
Der Zeitpunkt von İmamoğlus Verhaftung kam eigentlich wenig überraschend. Bereits seit seinem Amtsantritt als Bürgermeister 2019 gibt es zahlreiche Gerichtsverfahren gegen ihn. Das machte ihn lange ungeeignet als Präsidentschaftskandidaten der CHP, doch seine erfolgreiche Lokalpolitik und wahrscheinlich auch seine Beliebtheit im Ausland ließen seine Umfragewerte kontinuierlich steigen. Seine Partei hat İmamoğlu nun trotz seiner Haft am Sonntag zum Präsidentschaftsanwärter ernannt.
Seitdem die CHP bei den Lokalwahlen 2024 überraschend stark abgeschnitten hatte, fordert der Parteivorsitz landesweite Neuwahlen – bisher jedoch ohne Erfolg. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen wirklich erst 2028 stattfinden werden, denn bei vorzeitigen Neuwahlen könnte Erdoğan erneut als Präsidentschaftskandidat antreten; andernfalls müsste er die Verfassung ändern. Dass İmamoğlu nun verhaftet wurde, versteht die Opposition als »Putsch« der Regierung gegen ihren stärksten Herausforderer.
CHP vertraut dem Staat
Auf die Straße geht nun aber nicht nur die CHP, sondern eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung, die in der Ablehnung der aktuellen Regierung vereint ist. Unter den Studierenden gibt es viele, die explizit nicht für die CHP oder deren Politiker, sondern für eine Zukunft in Sicherheit und ökonomischer Stabilität demonstrieren. Gewählt haben die meisten von ihnen wahrscheinlich dennoch İmamoğlu, denn er gilt den einen als sozialdemokratische, säkulare Alternative zu den AKP-Politikern, den anderen als konservativ und nationalistisch genug.
Doch die CHP ist keine Partei, die für gewöhnlich zu Straßenprotesten aufruft, im Gegenteil. Als Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk vertraut sie grundsätzlich auf den Staat und seine Institutionen. Sie gibt die Parole »Hak, hukuk, adelet – Recht, Gesetz, Gerechtigkeit!« aus.
Die CHP ist keine Partei, die für gewöhnlich zu Straßenprotesten aufruft. Als Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk vertraut sie grundsätzlich auf den Staat und seine Institutionen.
Einerseits steht sie also derzeit unter dem Druck der Straße, angeführt von der Jugend, die ankündigt, solange zu protestieren, bis die Regierung zurücktritt, und von der CHP-Führung Mobilisierung einfordert. Bei den allabendlichen Massenkundgebungen vor dem Rathaus dürfen auch Studierendenvertreter*innen sprechen, die meisten von ihnen forderten ihre Kommiliton*innen zum Uni-Streik und die Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Sie fordern aber auch, dass die CHP sie gegen die Polizeigewalt verteidigt und sich mit den vielen hundert Festgenommenen solidarisiert. Für Dienstagabend haben Studierende der Istanbuler Universitäten bereits ein eigenes Treffen im Maçka Park angekündigt.
Anderseits steht die CHP selbst vor weiteren Herausforderungen, die über das Schicksal von İmamoğlu hinausgehen. Der Parteivorsitzende Özgür Özel hat für den 6. April einen außerordentlichen Parteikongress einberufen, aber ob dieser tatsächlich stattfinden wird, ist derzeit ungewiss. Denn es besteht ein andauerndes Verfahren der Oberstaatsanwaltschaft in Ankara, dass den vergangenen Parteikongress vom November 2023 in seiner Rechtmäßigkeit anzweifelt.
Große Unterstützung für İmamoğlus Kandidatur als Präsident
Damals wurde Özel zum Parteivorsitzenden gewählt. Sollte dieses Verfahren in den kommenden Tagen fortgesetzt werden, könnte die aktuelle CHP-Führung abgesetzt und die Partei ebenfalls unter Zwangsverwaltung gestellt werden. Am Dienstag wurde außerdem der Bürgermeister des Istanbuler Stadtviertels Beyoğlu vom Staatsanwalt vorgeladen.
Bei der parteiinternen Abstimmung über İmamoğlus Kandidatur am vergangenen Sonntag wurden kurzfristig auch Stimmen von Nicht-Parteimitgliedern zugelassen. So kamen laut Parteivorsitzendem Özel rund 15 Millionen Stimmen für İmamoğlu zusammen. Die starke Unterstützung zeigt einerseits die Beliebtheit des abgesetzten Bürgermeisters, anderseits aber auch die Schwierigkeit, einen Kandidaten zu finden, der ihn ersetzen könnte.
Neuer Bürgermeister für Istanbul gesucht
Als Konkurrent gilt der Bürgermeister aus Ankara, Mansur Yavaş, dessen politische Vergangenheit jedoch in der nationalistisch-faschistischen MHP liegt und der für viele Kurd*innen und Linke nicht wählbar ist. Yavaş hatte sich außerdem in seiner Rede am Samstagabend abfällig gegenüber den Kurd*innen und den Newroz-Feierlichkeiten geäußert, wofür sich Parteivorsitzender Özel am folgenden Tag öffentlich entschuldigte.
Ebenfalls muss die CHP nun darüber beraten, wer anstelle İmamoğlus das Rathaus von Istanbul führen wird. Da er nicht wegen der Terrorismusvorwürfe, sondern wegen Korruptionsanschuldigungen inhaftiert wurde, erfolgt keine Berufung eines Zwangsverwalters, sondern das Stadtparlament bestimmt einen neuen Bürgermeister. Als mögliche Kandidatin gilt derzeit die Bürgermeisterin des Istanbuler Bezirks Üsküdar, Sinem Dedetaş. Zu voreilig darf die CHP allerdings nicht signalisieren, dass İmamoğlu ersetzbar sei, denn ihr Hauptanliegen ist seine Freilassung.
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