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Türkei: Gemeinsam gegen die AKP
Bei den Protesten ist die Wut auf die türkische Regierung größer als das politische Bewusstsein
Noch bevor der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu vergangene Woche verhaftet wurde, gingen bereits zahlreiche Studierende in der Türkei auf die Straße. Sie protestierten dagegen, dass İmamoğlu sein Universitätsabschluss aberkennt wurde – eine Voraussetzung, um Präsident der Türkei zu werden. Doch die Studierenden gingen nicht nur für den CHP-Politiker auf die Straße, sondern auch für sich selbst. Eine von ihnen ist die 23-jährige Ceren. Sie studiert an der Universität Istanbul Französische Sprache und Literatur. Sie hat keine Angst davor, während der Proteste verhaftet zu werden – vor einer Zukunft in Armut und Unsicherheit schon.
»Die Verhaftung von İmamoğlu war nur der Auslöser, doch hinter unseren Protesten steckt viel mehr. Im gesamten Land und auch an den Universitäten herrschen seit Langem antidemokratische Zustände«, erklärt Ceren. Es gebe keine Freiräume mehr für die Jugendlichen innerhalb der Hochschulen, sondern nur noch teure Cafés von privaten Firmen, deren Betreiber der Regierungspartei AKP nahestünden. Außerhalb des Campus könne man sich sowieso gar nichts mehr leisten. »Es gibt eine unglaubliche Verarmung. In meinem Jahrgang müssen alle neben dem Studium arbeiten. Wir arbeiten, um studieren zu können, damit wir Chancen auf eine bessere Zukunft haben. Doch die ist auch nicht sicher, wenn einem plötzlich das Diplom aberkannt werden kann.«
Repression richtet sich speziell gegen Studierende
Die Universität Istanbul, an der Ceren studiert, war auch die Universität, die İmamoğlu am 18. März seinen Abschluss aberkannte. Daraufhin versammelten sich Studierende vor ihrer Hochschule und durchbrachen fest entschlossen eine Polizeikette. Es sei daher nicht überraschend, dass sich die staatlichen Repressionen vor allem gegen die Studierenden richten. »Ich persönlich habe keine Angst«, sagt Ceren. »Wir sehen, dass die Jugend trotz der ersten Verhaftungswelle weder die Straßen noch die Universitäten verlässt.
«Der Rechtsstaat ist so ausgehöhlt, dass alles zum Vorwand genommen werden kann, um jemanden festzunehmen.»
Ceren
Studentin an der Universität Istanbul
Im Gegenteil, es wurden sogar immer mehr.« Dennoch gebe es sicherlich auch einige, die eingeschüchtert wurden. Laut türkischem Innenministerium wurden seit Beginn der Proteste rund 1900 Menschen festgenommen. »Um uns vor Repressionen zu schützen, können wir uns auf den Kundgebungen etwas zurückhalten oder in den sozialen Medien vorsichtig sein. Aber der Rechtsstaat in der Türkei ist so ausgehöhlt, dass eigentlich alles zum Vorwand genommen werden kann, um jemanden festzunehmen«, erklärt Ceren.
Neben den täglichen Demonstrationen gibt es aktuell auch eine Boykottbewegung an den Universitäten. Dort findet kein Unterricht statt, sondern es gibt selbstorganisierte Foren von Studierenden. Auf denen wird über konkrete Probleme an der Uni gesprochen und ein Delegiertensystem aufgebaut, das landesweit dauerhaft an einer Demokratisierung der Universitäten arbeiten soll. Außerdem finden soziale Veranstaltungen statt, wie gemeinsame Lesungen, Konzerte und Feste.
Präsident Erdoğan hat die nun anstehenden Feiertage zum Ende des Ramadans kurzerhand verlängert – könnte die Bewegung dadurch abflauen? »Ja, die langen Ferien sind ein Risiko, denn es bedeutet, dass viele Studierende zu ihren Familien fahren«, erklärt Ceren. »Dort stehen sie unter dem Druck der Eltern, die angesichts der zahlreichen Verhaftungen sehr besorgt sind. Außerdem sind die Studierenden dann erst einmal weg aus den Universitäten und von den Versammlungsorten. Aber ich denke, dass die Bewegung weitergehen wird, denn die Studierenden sind immer noch wütend.«
Proteste sind politisch unscharf
Tagelange Proteste, eine politisch diverse Bewegung und Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung – das erinnert an die Gezi-Proteste von 2013. Doch erlebt die Türkei wirklich ein Gezi 2.0? »Bei Gezi gab es mehr Solidarität untereinander, es gab gemeinsame Forderungen und es gab auch mehr Heiterkeit. Das politische Bewusstsein war klarer und der Grad der politischen Organisierung war höher. Die Bewegung jetzt ist vor allem wütend. Sie ist weniger um klare politische Forderungen versammelt, sondern die Menschen gehen morgens bis abends auf die Straße und kämpfen gegen die Barrikaden der Polizei, um ihrem Frust Platz zu machen«, analysiert Ceren. Gleichzeitig habe aber auch die Regierung dazugelernt. »Sie gehen dieses Mal viel schneller und massiver gegen die Massen vor und verhaften die Protestierenden, damit es gar nicht erst zu einem zweiten Gezi kommt.«
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Die politische Unschärfe der Proteste zieht auch rechtsextreme Gruppierungen an, einige Protestierende zeigen beispielsweise den Wolfsgruß. Ceren meint: »Man kann diese Leute nicht alle von den Demonstrationen ausschließen. Das gemeinsame Interesse ist die Ablehnung gegenüber der AKP.« In der individuellen Konfrontation könne man diese Leute nicht bekämpfen, das wäre gefährlich. Stattdessen betrachtet Ceren sie als Jugendliche, die stark geprägt sind von den Mainstream-Medien und oft auch kein gefestigtes politisches Bewusstsein haben. »Dennoch darf man ihnen nicht das Feld überlassen. Linke, Revolutionäre, Sozialdemokraten müssen ihre eigenen Slogans hervorbringen. Wir müssen in den Foren der Universitäten und auch auf den Demonstrationen aufzeigen, wie wir gemeinsam kämpfen, nicht gegeneinander.«
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