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- Interview mit Regisseur Frédéric Hambalek
»Was Marielle weiß« im Kino: Plötzlich gläsern!
Regisseur Frédéric Hambalek hat mit »Was Marielle weiß« eine entlarvende Familiensatire geschaffen. Ein Gespräch
In »Was Marielle weiß« sieht und hört die zwölfjährige Marielle alles, was ihre Eltern Julia und Tobias tun – auch wenn sie nicht in ihrer Nähe sind. Ist das eine Art Retourkutsche gegen Helikoptereltern, die heutzutage sogar ein Babyphone mit Kamera besitzen?
So war es jedenfalls erst mal nicht gedacht. Aber es ist schön, wenn es diese Assoziation gibt. Dieses Phänomen der überwachsamen und überbeschützenden Eltern gibt es natürlich in unserer Zeit. Wenn man sich mit der Generation meiner Eltern unterhält, stellt man fest, dass das auch ein ziemlich neues Phänomen ist.
Gerade in Deutschland ist die Privatsphäre-Thematik sehr stark. In »Was Marielle weiß« wissen Julia und Tobias nicht, wie sie mit ihrer neuen Rolle umgehen sollen und verhalten sich wahnsinnig ungeschickt. Ein bisschen wirkt es so, als wären sie die Kinder. Sie prügeln sich, sprechen in Kindersprache und scheinen sich vor Marielle beweisen zu wollen. Das ist im Endeffekt eine umgedrehte Spiegelung, auch das Kräfteverhältnis ist anders verteilt.
Das stimmt. Der emotionale Kern, der mitschwingt, ist, wie ein Kind erlebt, wer die Eltern wirklich sind, während man im echten Leben erst über die Jahre langsam immer mehr Verständnis für seine Eltern und ihr wirkliches Leben entwickelt. Marielle durchlebt das wie in einem Crashkurs in kürzester Zeit. Durch Marielles neue Fähigkeiten sind die Eltern plötzlich gläsern. Sie hingegen ist für die Eltern und auch für das Publikum eine (undurchschaubare) Black Box.
Warum haben Sie sich entschieden, die Elternsicht und nicht die Sicht des traumatisierten Kindes einzunehmen? Es ist sicher für Marielle nicht einfach, mit all den neuen Eindrücken zurechtzukommen und die Eltern in einem neuen Licht zu sehen.
Für mich war das als zweifacher Vater besonders interessant, weil die Eltern sozusagen das echte Problem haben. Erziehung heißt auch, etwas vorzuleben, was man gar nicht erfüllen kann. Man versucht aber, ein Ideal aufrechtzuerhalten, auch wenn man selbst als Erwachsener oft daran scheitert. Man fragt sich, ob es auch ein anderes, ehrlicheres Modell gibt, ob es Geheimnisse geben sollte oder eben nicht.
Frédéric Hambalek wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Von 2007 bis 2014 absolvierte er ein Studium in den Fächern Filmwissenschaft und Amerikanistik an der Universität Mainz. Während dieser Zeit sammelte er erste praktische Erfahrungen im Filmbereich. Sein Langfilmdebüt »Modell Olimpia« wurde 2020 auf dem Talinn Black Nights Film Festival in Estland uraufgeführt. Mit seinem zweiten Langfilm »Was Marielle weiß« wurde Hambalek 2025 in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen.
Laeni Geiseler (14) besuchte ab vier Jahren bis zu ihrem zwölften Lebensjahr eine Musicalschule, 2022 hatte sie ihren Durchbruch mit der Mysteryserie »Schnee« als Mädchen mit seherischen Fähigkeiten. Brigitte Hobmeier und Robert Stadlober spielten damals ihre Eltern. Inwiefern haben diese Erfahrungen die Zusammenarbeit beeinflusst und was hat Sie beim Casting überzeugt?
Sie ist hereingekommen und hat eine sehr schwierige Szene mit einer Wucht und Glaubwürdigkeit auf Anhieb gespielt, dass es uns alle umgehauen hat. Mit Laeni zu arbeiten, war ganz toll und hat diesen ersten Eindruck bestätigt. Ich habe gleich bei der ersten Klappe gemerkt, wie groß ihre Eigenständigkeit und wie gut ihr Rhythmusgefühl ist und wie sehr sie sich in Marielle hineinfühlen kann. Sie ist sehr klug und sehr talentiert. Deshalb konnte ich mit ihr wie mit allen anderen Schauspielern umgehen.
Die Mutter verkörpert Julia Jentsch. Sie ist von ihrer Ehe angeödet, wünscht sich »einen anderen Geschmack, einen anderen Geruch«. Warum sollte Julia Jentsch diese Rolle spielen?
Ich finde Julia Jentsch in jeder Rolle, in der ich sie sehe, einfach immer wahnsinnig sympathisch. Es war interessant, die Figur der Mutter mit ihr zu besetzen, der ich einfach nicht böse sein kann. Julia macht wie fast alle Figuren im Film sehr oft unsympathische Sachen. Also habe ich mir gedacht: Dann schauen wir mal, wie weit die Sympathie trägt und was das mit dem Zuschauer macht. Bei Felix Kramer war es eine ähnliche Idee – nur in dem Sinne, dass Felix als Mann oft sehr körperlich in Erscheinung tritt und ich ihm eine Rolle in einem intellektuellen Milieu gebe, wo er eher schwach ist.
Was haben die beiden ins Spiel eingebracht?
Ich spreche generell nicht so viel mit den Schauspielern vorher ab, sondern lasse sie erst mal machen. Ich habe oft auf ihren Ideen aufgebaut, wie eine Szene sein soll. Felix improvisiert sehr gern, indem er zum Beispiel eine Pause macht oder eine Nachfrage setzt, die gar nicht im Drehbuch steht. Wenn Marielle ihrem Vater erzählt, was die Mutter macht, weil sie alles hört und sieht, obwohl sie weit weg ist, lachen die beiden unheimlich viel und sind gelöster. Das passierte einfach im Spiel von Laeni und Felix.
Als Felix Kramer in seiner Rolle des Vaters plant, jemandem eine Ohrfeige zu geben, zieht er seinen Ehering aus. Sie hatten am Set auch eine Gewaltberatung. Was war Ihnen dabei wichtig?
Wir haben die Szene mit Hilfe einer Stuntberatung umgesetzt. Niemand wurde wirklich geohrfeigt, die Ohrfeige ist natürlich eine Illusion. Wenn man so etwas sehr Intensives darstellt, braucht man keine wahnsinnig düstere Stimmung am Set. Wir haben oft kontrastierende Emotionen ausprobiert. Die Frage ist dabei letztendlich: Wer sind die Figuren? Sind sie in dieser sehr dramatischen Szene total ernst, oder versuchen sie vielleicht, die Stimmung aufzulockern, weil alles so ernst ist? Alle Schauspieler hatten großen Spaß dabei, weil die Szene an sich etwas Tragikomisches in sich trägt, was man von der Beschreibung her gar nicht vermuten würde.
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Es gibt keine Spezialeffekte. Marielle gesteht ihren Eltern, dass sie telepathische Fähigkeiten besitzt. Fortan ist das Teil des Drehbuchs. Welche Vorbilder hatten Sie für den Film?
Der erste war für mich Luis Buñuel, weil er plötzlich den Menschen eine Vorgabe gemacht hatte, mit der sie umgehen mussten, ohne das wirklich zu sehen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut diese Illusion im Kino funktioniert. Ich wollte mich auf das absolut Wesentliche fokussieren und vor allem zeigen, wie sich die Eltern und die Tochter in dieser Situation verhalten. Und da heißt es eben, all das wegzulassen, was irgendwie ablenken könnte oder in eine andere Richtung gehen könnte. Das andere Vorbild war für mich Ruben Östlund, den ich sehr dafür bewundere, wie er Menschen dabei zeigt, wie sie versuchen, mit einer Situation klarzukommen, scheitern und dadurch ihre eigenen Schwächen entblößen.
»Was Marielle weiß«: Deutschland 2025. Regie und Drehbuch: Frédéric Hambalek. Mit: Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler. 87 Min. Start: 17. April.
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