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Brandenburg: Gedenken über Kampf und Katastrophe in Klessin
Ein Verein richtete im Oderbruch eine Gedenkstätte zum Zweiten Weltkrieg ein, die ein Lernort sein soll
Der Russe greift uns 2030 an, erklären Experten. Andere Kriegsapostel meinen, das geschehe schon früher. Carlo Masala zum Beispiel schreibt in seinem neuen Buch »Wenn Russland gewinnt: Ein Szenario«, am 27. März 2028 marschiere der Russe in Estland ein. Immerhin: Man nennt den vermeintlichen Feind noch nicht »Iwan«. Aber das scheint wohl nur eine Frage der Zeit.
Wenn man aus der einstigen Reichshauptstadt Richtung Osten rollt, lässt man nicht nur den Straßenlärm der Metropole, sondern auch das Kriegsgeschrei hinter sich. Im Oderbruch pflegen wie seit Jahrzehnten schon die Anwohner die Gräber der Soldaten – die mit dem Eisernen Kreuz und die mit dem Sowjetstern. Auch nach 80 Jahren ist nicht vergessen, was Menschen Menschen angetan haben. Wobei die Frage nicht gestellt wird, wer hier Opfer und wer Täter war. Denn die Antwort ist in diesem Landstrich allgemein bekannt: Die Rote Armee wäre nie nach Berlin aufgebrochen, wenn die deutsche Armee zuvor nicht bis vor Moskau marschiert wäre und dabei verbrannte Erde und Leichenfelder zurückgelassen hätte. Inzwischen gilt als gesichert: An die 30 Millionen Sowjetbürger, davon etwa die Hälfte Russen, bezahlten den Einfall der faschistischen Wehrmacht, der SS und des Sicherheitsdienstes SD mit ihrem Leben.
Was im Frühjahr 1945 vor und auf den Seelower Höhen geschah, muss man im Oderbruch niemandem erklären, weshalb der Wunsch nach einer Wiederholung hier äußerst gering ist. Es tobte damals eine verlustreiche Schlacht, in der die sowjetischen Truppen schließlich nach Berlin durchbrechen konnten. Die Narben des Zweiten Weltkriegs sind noch immer zu sehen: Die meisten Häuser in den Dörfern sehen besser und bunter aus als jemals zuvor. Aber es gibt Siedlungen, da sind die Schneisen, die die Feuerwalze des Krieges schlug, nicht wieder aufgefüllt worden. Etwa in Kessin, heutzutage ein Ortsteil von Podelzig. Die Einwohnerschaft beträgt ein halbes Hundert. Vor dem Krieg standen gewiss mehr Gebäude hier. Das größte war ein Gut. Von dem blieb nicht einmal eine Ruine.
Zwei wuchtige Findlinge stehen vor der Nachbildung des aus rostbraunem Cortenstahl nachgebildeten Portals. Auf dem einen steht: »Den gefallenen sowjetischen Soldaten.« Die andere Inschrift erinnert an die Wehrmachtssoldaten. Im Frühjahr 1945 wurde um den »Stützpunkt Klessin« gekämpft. Bis zum Reitweiner Sporn sind es keine drei Kilometer Luftlinie. Dort hatte Marschall Georgi Schukow seinen Gefechtsstand. Von dort aus kommandierte er vom 16. bis zum 19. April eine Million Soldaten in der Schlacht um die Seelower Höhen.
Da war der »Stützpunkt Klessin« bereits Geschichte und der Gutshof ein Schutthaufen. Am 22. März hatte Hauptmann Böge per Funk darum gebeten, dass seine von ursprünglich 300 Soldaten noch lebenden 90 Männer sich zurückziehen dürfen. »Einem weiteren Angriff ist die Kampfgruppe nicht gewachsen«, erklärte er. Die Antwort kam postwendend: Die Stellung sei »unter allen Umständen« zu halten. »Männer von Klessin! Man sieht voller Stolz und Bewunderung auf Euch. Ihr seid entscheidende Wellenbrecher gegen den bolschewistischen Ansturm auf die Reichshauptstadt. Heil unserem Führer. SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Kleinheisterkamp.«
Es gingen nicht nur sowjetische Granaten auf den Stützpunkt nieder, sondern auch Flugblätter der 69. Armee. »Soldaten der Besatzung von Klessin! Ihr könnt Euch einen, zwei Tage halten, vielleicht noch eine Woche – das ändert nichts. Vor Euch ist der Tod. Jetzt zu sterben – am Vorabend des Tages, an dem die Zeit der friedlichen Arbeit beginnt, wo es keine Bomben und Minen, keine SS und Gestapo mehr gibt –, was kann noch sinnloser sein!« Und weiter: »Die Parole heißt – Leben!«
Hauptmann Böge widersetzte sich sowohl dem Befehl der eigenen Führung als auch der vernünftigen Aufforderung der Roten Armee. Er zog sich zurück und starb nur wenige Kilometer entfernt am 16. April. Auch die anderen Soldaten von Klessin überlebten den Krieg nicht. So kann man es auf den Tafeln auf dem einstigen Gutsgelände lesen. Auch, dass »im Klessiner Kampfgebiet schätzungsweise 700 bis 800 Rotarmisten« starben. »Die meisten wurden auf Feldfriedhöfen beigesetzt. Viele jedoch verblieben in den Schützengräben und Bombentrichtern und wurden nicht geborgen.«
Zwischen 2005 und 2019 fand dort der Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa bei 19 Grabungen die Gebeine von 237 Soldaten, davon 125 Rotarmisten und 112 Wehrmachtssoldaten. »Auf und im Umfeld der heutigen Erinnerungs- und Gedenkstätte werden noch über 100 Kriegstote beider Nationen vermutet.« Man werde die Suche fortsetzen. So sachlich und frei von zeitgeistigen Verrenkungen kann man es auf dem Areal des einstigen Gutes lesen, den der Wuhdener Heimatverein in jahrzehntelanger Arbeit als Gedenkstätte hergerichtet hat. 2023 erfolgte die Übergabe. Von inzwischen 30 000 Stunden investierter Arbeitszeit ist die Rede.
»Jetzt zu sterben – am Vorabend des Tages, an dem die Zeit der friedlichen Arbeit beginnt, wo es keine Bomben und Minen, keine SS und Gestapo mehr gibt –, was kann noch sinnloser sein!«
Flugblatt an die Wehrmachtssoldaten
Nie wieder Krieg! Die Texte auf den Tafeln sind nicht nur auf Deutsch, Polnisch und Englisch verfasst, sondern auch auf Russisch. Und noch etwas ist wert, hervorgehoben zu werden. Seit Ende März hängt an einem Mauerrest ein glänzendes Zeichen. Es besagt, dass dieser Ort nunmehr zur »Liberation Route Europe« gehört, der Route der Befreiung Europas. Ein internationaler Zusammenschluss von Regierungsorganisationen, Universitäten, Museen und Veteranenverbänden stiftete das kreisrunde Medaillon, auf dem der Schriftzug des Schöpfers (Design by Studio Libeskind, New York) so groß ist wie alle anderen Zeichen, die den Sinn des »Vektors der Erinnerung« erklären. Geschenkt. Tue Gutes und lass es auch die Leute wissen.
Zu den Unterstützern der 2019 zum 75. Jahrestag der Befreiung ins Leben gerufenen Vereinigung gehört auch das EU-Parlament. Man wolle, so hieß es damals, auf einer Route der Erinnerung Schauplätze der Befreiung vom Faschismus markieren und miteinander verbinden. So sollen zur bleibenden Mahnung die Wege der »alliierten Streitkräfte« gezeigt werden, auf denen diese bis nach Berlin gelangten. Komisch nur, dass auf dieser solcherart markierten Route – miteinander verbunden 3000 Kilometer lang – nur Orte in Westeuropa liegen, sieht man einmal von Gdańsk und Warschau ab. Dort aber wird lediglich an den Überfall Hitlerdeutschlands erinnert und nicht an die Befreiung durch die Rote Armee. Nach dieser Lesart gehört die Sowjetarmee augenscheinlich nicht zu den alliierten Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition.
Den didaktisch vorzüglich aufbereiteten Gedenkort hätten zwar schon viele Besucher aufgesucht, so sagte voller Genugtuung und Stolz der Redner des Heimatvereins bei der Enthüllung des Zeichens. Deutsche und Ausländer, selbst Amerikaner seien bereits dagewesen. Aber traurig mache ihn die Tatsache, dass bisher nicht eine Schulklasse mit Lehrer hier gewesen sei. Denn das sei doch ein Lernort, an dem man erkennen könne, wie verbrecherisch und unsinnig Krieg ist. Jeder Krieg! Nun ja, wenn ein Volk »kriegstüchtig« gemacht werden soll, braucht man derlei Aufklärung nicht. Die ist dabei nur hinderlich.
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