Zeitüberdauernde Kindheitswelt
Vor 100 Jahren wurde die große schwedische Dichterin Astrid Lindgren geboren
Auf der Erde wissen davon nur wenige Fachleute, und dem Asteroiden 3204, der seit Jahrmillionen durchs All fliegt, ist's sicherlich gleichgültig, dass er seit 1996 den Namen Astrid Lindgren trägt, getauft von Astronomen der Russischen Akademie der Wissenschaften. Der großen schwedischen Dichterin und manchen ihrer kindlichen Leser aber wär's vielleicht tröstlich, sich vorzustellen, dass die »Brüder Löwenherz« mit ihrem Sprung ins Licht nun auf ewig durch Zeit und Raum reisen. Fragt man aber in unserer irdischen Welt nach einem rothaarigen Mädchen, das ohne Erwachsene nur mit einem Affen und einem Pferd in einer Villa Kunterbunt lebt und für das es eine der leichtesten Übungen ist, das Pferd mit einem Arm hochzustemmen, dann gibt es wohl nur wenige, die nicht wissen, dass hier von Pippi Langstrumpf die Rede ist.
Deren Abenteuer hat Astrid Lindgren erfunden, die vor 100 Jahren, am 14. November 1904, geboren wurde. Der Name allerdings stammt von ihrer Tochter Karin, die, krank im Bett liegend, ihre Mutter aufforderte, ihr Geschichten von Pippi Langstrumpf zu erzählen. Und es brauchte später noch einen Unfall, der die Mutter zur Bettruhe zwang, bis Pippi als stenografiertes Manuskript das Licht der Welt erblickte, der Tochter, sauber abgetippt, zum 10. Geburtstag geschenkt.
Das war 1944, die »brave Hausfrau« durchbrach ihren frühen Vorsatz, niemals Dichterin zu werden. Prompt wurde die Geschichte von einem renommierten Verlag abgelehnt. Und erst, als die Autorin mit einem weiteren Buch den zweiten Preis bei einem literarischen Wettbewerb gewann, kam auch »Pippi« zwischen zwei Buchdeckel, heiß umstritten bis heute, aber das Fundament für den Weltruhm Astrid Lindgrens. (Übrigens, die heute bekannte Fassung der Geschichte ist abgemildert, »entschärft«, das Original liegt im Tresor der Schwedischen Akademie.)
Ihre »schwierigste Zeit«, berichtete Astrid Lindgren Jahrzehnte später, sei der Abschied von der Kindheit gewesen. Auf einem gepachteten Bauernhof in Näs (im Smaland gelegen) wuchs sie als zweitälteste mit drei Geschwistern auf. Bei aller strengen Ordnung und einer Fülle (ganz selbstverständlich angenommener) Pflichten waren diese Jahre so unbeschwert und glücklich, dass sie nie aus ihrer Erinnerung und ihren Büchern verschwanden: Arbeit, Spiel, Natur, Nähe zu allem, was sie umgab, eine Welt, wie sie in den Abenteuern der Kinder von Bullerbü weiterlebt. Dann aber der Zeitpunkt, da über ihr weiteres Leben zu entscheiden war: Lehre fürs praktische Leben einer schwedischen Bäuerin oder ...? Jung-Astrid, die in der Schule schon mit Aufsätzen geglänzt hatte, wählte das »Oder«. Sie verließ den Hof und ging mit 17 ins nahegelegene Städtchen Vimmerby, wo die Lokalzeitung lockte. Ihr Chef stellte sie als einzige Mitarbeiterin und Assistentin, also als »Mädchen für alles« an. Annoncen und Lokalnachrichten, und schließlich kam, was kommen musste: Astrid war schwanger. Eine Katastrophe für die Eltern und die ach so moralische Gesellschaft. Also, hinein in die Anonymität der Hauptstadt. Als Sohn Lars geboren wurde, war die junge Mutter gerade in Ausbildung zur Sekretärin und mittellos. Sie gab den Kleinen zu einer Pflegemutter, und erst als er 3 Jahre war, – sie inzwischen angestellt bei einem Automobilclub, aber noch immer arm –, holte sie ihn zu sich. Ein nagendes Schuldgefühl blieb, (man spürt's an so mancher Jungen-Gestalt ihres Werkes), doch sie gab ihren Kindern die Kraft all ihrer Liebe.
1931 heiratete sie Sture Lindgren. Tochter Karin wurde geboren, aber noch lag die Literatur in weiter Ferne. Als der Erfolg kam, entstand Buch auf Buch. Sie könne nur über das schreiben, was sie wirklich kenne, offenbarte die Dichterin einmal. So sind viele Geschichten von den Bullerbü-Kindern, Michel von Lönneberga oder Rasmus auf dem Lande, von Pippi Langstrumpf oder Kalle Blomquist in der Kleinstadt und viel später erst »Karlsson vom Dach« oder »Ferien auf Saltokran« in der Großstadt angesiedelt. Die Dichterin versteht es, aus kindlicher Sicht zu erzählen. So sind das Lachen, vor allem aber die schweifende Fantasie von Erwachsenenschwere, von niederdrückendem Alltag befreit. Es entsteht eine Philosophie des Wünschens und Träumens, die auch Schweres, selbst den Tod, nicht ausspart wie bei den »Brüdern Löwenherz« oder »Mio mein Mio«.
Streiche und Heldentaten, die Möglichkeit des Unmöglichen, die Freiheit, die ihre eigenen Grenzen findet – all das sprengt bis heute moralinsaure Tristesse, utilitaristische Borniertheit bis zur gängigen Kommerzialisierung aller Werte. Astrid Lindgren hat immer bestritten, mit ihrem Werk irgendeine Botschaft in die Welt senden zu wollen, aber eines der schönsten Beispiele für die Menschen und Verhältnisse ändernde Kraft der Liebe gibt »Ronja Räubertochter«, freundlicher Gruß auch an Hans Christian Andersens Räubermädchen aus der »Schneekönigin«.
Die Dichterin bekam 1978 als erste Kinderbuchautorin den »Friedenspreis des deutschen Buchhandels« zugesprochen. Sie schickte die traditionell vorgesehene Dankesrede an die Organisatoren. Die teilten ihr daraufhin mit, eine Rede sei diesmal nicht nötig. Schließlich, sie hatte mit Konsequenzen gedroht, durfte sie sprechen. »Keine Gewalt!!« nannte sie die Rede, ein drastisches Plädoyer für Freiheit und reale Perspektiven der Kinder, eine deutliche Abfuhr an die Show-Veranstaltungen der Politiker, die Frieden und Abrüstung propagieren, doch stets nur an die anderen gerichtet. Gewalt und Machtstreben lägen nicht zwangsläufig in der Natur des Menschen. Gewaltverzicht überall, im Kleinen wie im Großen, sah sie als Samenkorn einer friedlichen Zukunft. Dass solcher Geist auch ein Stück Macht gewinnen kann, haben die Schweden in ihrer Steuergesetzgebung und vor allem bei einem Neuansatz des Tierschutzes in bleibender Erinnerung.
Astrid Lindgren starb am 28. Januar 2002. Ihre Geschichten sind lebendig wie je. Und mag einen auch das Alter niederdrücken, weiß man bei der Lektüre wieder um die Zeit, da eine ganze Welt nur auf unsere Entdeckungen wartete.
Das Werk ist in vielen Ausgaben vorrätig. Zu empfehlen: Maren Gottschalk: Jenseits von Bullerbü. Die Lebensgeschichte der Astrid Lindgren. Beltz & Gelberg. 212 Seiten, geb., 16,90 EUR.
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