Ein Gigant soll aus Ground Zero wachsen

Wo das New Yorker World Trade Center stand ist heute ein Loch, das eifrig vermarktet wird. Doch aus dem Ground Zero soll etwas Gigantisches werden.

  • Max Böhnel, New York
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Fulton Street hoch, einfach der Karte nach, nach zehn Minuten sind Sie am Ground Zero, seien Sie eine Viertelstunde vorher da«, sagte der Verkäufer durch die Glasscheibe seines Ständchens, vielleicht 500 Meter vom ehemaligen World Trade Center entfernt, wo die Tickets für die Besichtigungsrampe ausgegeben werden. Wie viel tausend Mal hat er seinen Spruch aufgesagt, seit die Stadt an Neugierige Ground-Zero-Eintrittskarten verteilt? Die Geschäfte in der schneebedeckten Fulton Street, die zur Katastrophenstelle führt, florieren. Ganze Trauben winterfest verpackter Touristen schlendern bei Eiseskälte auf die Westseite Manhattans hinüber. 5000 Besucher werden täglich zum Ground Zero vorgelassen. Keine Frage, dass dabei auch für die Straßenverkäufer und Souvenirhändler etwas abfällt.

Der Horror wird gruselig vermarktet

An der Ecke Fulton Street/Broadway, wo die Aussichtsrampe abgeschrägt auf Ground Zero hinausragt, wartet der Rikschafahrer Joe Tomasella. »East Side, West Side, Uptown, Downtown, Little Italy, Chinatown«, ruft er die Viertel aus, in die er die Touristen nach ihrem Ground-Zero-Bummel radeln kann. Um seine Schultern hat er eine US-Fahne gewickelt,. Er fröstelt. »Die Leute kommen, egal ob Ground Zero zum Anschauen hergerichtet ist oder nicht«, sagt er. Als noch nichts arrangiert war, standen die Neugierigen kreuz und quer in der Gegend herum und blockierten den Verkehr, bis die Stadt vor zwei Wochen begann, den Besucherstrom mit Tickets und Besucherzeiten zu regulieren.
»Einige benehmen sich wie in Disneyland«, meint Tomasalla, »sie machen Schnappschüsse vom Ground Zero mit ihren Kids, damit sie sie zuhause Tante Marta zeigen können.« Dabei ist der Ort, an dem die zusammenbrechenden Zwillingstürme am 11.September fast 3000 Menschen unter sich begruben, kaum so richtig zu erfassen. Das berühmte Stahlornament ist längst abtransportiert, die Schutthaufen sind fast gänzlich abgetragen, die Bagger arbeiten jetzt drei, vier Stockwerke unter der Erde. Zu sehen ist eine Fläche, die an einen überdimensionalen Acker erinnert. Er hat die Ausmaße eines Rollfelds eines kleinen Flughafens.

Jeweils 100 Menschen dürfen für eine Viertelstunde auf der Aussichtsrampe ihre Neugierinstinkte befriedigen. Niemand spricht, ein eisiger Wind fährt über die Gesichter. Das heute schneebedeckte Loch wird sich bei wärmeren Temperaturen in eine Schlammwüste verwandeln. Es riecht frisch, die beißenden Schwelbrände sind längst ausgegangen. Tag für Tag, auch vier Monate danach, entdecken die Bergungsteams neue Leichenteile. Den Horror gruselig zu vermarkten, daran haben sich ein paar Designer gemacht. An Straßenständen kann man so genannte Desaster-Postkarten erstehen, die die brennenden Türme und das zweite Flugzeug vom 11. September kurz vor dem Aufprall zeigen. Was viele New Yorker geschmacklos finden. Auch die Touristen, die sie zwar neugierig ansehen, aber dann doch liegen lassen, zeigen kein großes Interesse.

Trotzdem: Der Rummel um Ground Zero wird erst noch richtig losgehen. Denn die hölzerne Aussichtsrampe ist laut Stadtverwaltung ein Provisorium. Außerdem gehen die Aufräumarbeiten schneller voran als ursprünglich erwartet. Noch maximal fünf Monate dauert es, lauten die Schätzungen. Und darüber, was dann mit dem zerstörten Teil Downtown Manhattans geschehen soll, ist eine leidenschaftliche Debatte entbrannt. Im Angebot steht einiges: nach oben und zur Seite hin mäandernde Wolkenkratzer, eine 200 Meter hohe Sonnenuhr aus Stahl, Wasserspiele und Gedenkparks, zwei Seen, das größte Vogelhaus aller Zeiten.
Für die Gestaltung und Überbauung von Ground Zero sind offenbar keine Grenzen mehr gesetzt. Was seit letzter Woche die Ausstellung »A New World Trade Center - Design Proposals« unter Beweis zu stellen versucht, mit der in der Max-Protetch-Galerie im schicken Chelsea zum ersten Mal seit dem 11. September konkrete Vorschläge gemacht werden. Zur Eröffnung waren nicht nur Star-Architekten erschienen, die ihre Ideen bereitwillig vor den zahlreichen Fernsehteams ausbreiteten. Hunderte neugieriger New Yorker zogen durch die Galerie, vor der sich lange Schlangen bildeten. Die Liste der 45 Architekten, die der Galerie ihre Entwürfe für den Wiederaufbau von Ground Zero anvertraut haben, ist beeindruckend. Sie reicht von Zaha Hadid, Hans Hollein, Peter Cook, Wolfgang Prix und Frei Otto bis zu Michael Graves und Daniel Libeskind. Ganz zu schweigen von den zahlreichen experimentierfreudigen Neutalenten.
»A New World Trade Center« hatten Max Protetch und sein Rotterdamer Kollege Aaron Betsky innerhalb weniger Wochen aus dem Boden gestampft. Zwei konzeptionelle Trends prägen die Vorstellung der Architekten, sagt Protetch in einer ruhigen Minute am Rande des Eröffnungsrummels, und er stimme beiden zu. Größer und höher als das alte World Trade Center müsse gebaut werden, alles andere sei »das Eingeständnis einer Niederlage«. Über Trotz und Gedenken hinaus sei die Rückkehr zum Alltag, »zum Leben als Antithese zur Katastrophe«, gefordert.

Eine Mischung also aus einer einzigartigen Gedenkstätte und einer einzigartigen Serviceinrichtung für die New Yorker soll es werden. Nicht alle gehen dabei so weit wie der Vorschlag eines Londoner Architekten, der die Türme des WTC doppelt so hoch wie die alten bauen will, einen davon als Vogelvoliere. Oder wie das niederländische Architektenbüro Oosterhuis, dem ein programmierbarer Baukomplex vorschwebt, der monatlich seine Form ändert. Andere Büros wollen sonnendurchflutete Glaskomplexe, Gedenkhallen, Kulturzentren, transparente Aussichtstürme, Rampen und zwei Seen dort errichten, wo die Türme den Boden berührten. Hans Hollein strebt den Neubau der Zwillingstürme an, hoch oben will er sie mit einer 11. September-Gedenkstätte verbinden. Die ökologische Designerschule, prominent vertreten durch das New Yorker Büro »Site«, will an Stelle der Türme zum Andenken an die umgekommenen Feuerwehrleute und Polizisten 440 Bäume pflanzen, an deren Fuß Wasserspiele für Ablenkung sorgen. Daniel Libeskind, nicht nur in Berlin ein berühmter Name, stellte fest: »Egal ob Wolkenkratzer, mittelgroßer Gebäudekomplex oder Park - die wirkliche Frage besteht im Gedenken und darin, wie in Zukunft gedacht werden soll.« Das Trauma, das der 11. September hinterlassen habe, erfordere neue architektonische Antworten. Der Verlust menschlichen Lebens und die daraus entstandene Leere können nicht durch ein Gebäude symbolisiert werden. Die Diskussion über die Zukunft von Ground Zero hat jedenfalls erst begonnen. Eckpunkte in der Debatte haben der ehemalige und der neue Bürgermeister von New York gesetzt. Beide wollen nicht hoch bauen. Aber Rudolph Giuliani sähe gerne einen Park mit einer Gedenkstätte ohne Geschäftsviertel. Dem neuen Bürgermeister Michael Bloomberg schwebt dagegen eine Mischung aus Bürogebäuden, Schulen, Wohnungen und Geschäften vor. Die Würfel sind noch nicht gefallen, denn viele Interessengruppen wollen ihre Vorschläge durchsetzen. Außerdem halten so manche Städteplaner eine Debatte angesichts des nicht verarbeiteten Traumas für verfrüht. Trotzdem bemühen sich die Ästheten, Bauzeichner und Architekten schon jetzt darum, bei den Stadtoberen Gehör zu finden. Die Zeit seit dem 11. September, so Max Protetch, sei »wahrscheinlich die erste in der amerikanischen Geschichte, mit Sicherheit aber seit dem Zweiten Weltkrieg, in der sich die Amerikaner der Bedeutung von Architektur bewusst geworden sind«.

Die Anwohner haben ganz andere Sorgen

Auch in Berlin soll die Schau bald zu sehen sein. Schließlich plant das »Vitra Design Museum« am Prenzlauer Berg, die Entwürfe in die Hauptstadt zu holen. Was den Rettungsarbeitern, den Feuerwehrleuten, Polizisten und Anwohnern von Ground Zero freilich nur als intellektuelles Gehabe vorkommen muss. Sie haben andere Sorgen. Da sind nicht nur die um ein Vielfaches gestiegenen Scheidungs- und Selbstmordraten, die mit posttraumatischem Stress zu tun haben, sondern auch die körperlichen Schäden, mit denen Tausende von New Yorkern seit dem 11. September zu kämpfen haben, etwa der Ground-Zero-Husten. Demnächst wird auf Verlangen der Senatorin Hillary Clinton der Washingtoner Senat in New York zusammentreten, um über die Gesundheitsschäden Anhörungen abzuhalten. Bis heute weisen unabhängige Untersuchungen erschreckende und weit höhere Giftemissionen aus als die offiziellen Stellen. Was im World Trade Center lagerte und am 11. September in die Luft und ins Abwasser entwich - das würde man, bevor die Ästhetik des Wiederaufbaus von Manhattan zur öffentlichen Debatte wird, schon ganz gerne erfahren.
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