Schloss und Burg kooperieren gern
Die Paul-Natorp-Oberschule pflegt mit den Nachbarn in Friedenau »Orchideenkurse«
Die Paul-Natorp-Oberschule, benannt nach dem Pädagogen und Philosophen Paul Gerhard Natorp, wurde vor 100 Jahren als Schloss gebaut – als ein Schloss zum Lernen für die höheren Töchter Friedenaus. In Sichtweite des »Schlosses« in der Goßlerstraße befindet sich eine »Burg«. Das trutzig aussehende Gebäude der jetzigen Rheingau-Oberschule war im Kaiserreich für männliche Realschüler vorgesehen. Heute sind in Schloss und Burg zwei Gymnasien untergebracht, die – und das ist selten in Berlin – sogar miteinander kooperieren.
Je einen Leistungskurs muss jeder Oberschüler an der Parallelschule besuchen. »Diese Regelung ermöglicht es beiden Schulen, ein differenzierteres und breiteres Kursangebot zu gewährleisten, als jede allein zu erarbeiten im Stande wäre«, erläutert Ulrich Wüsthof, Schulleiter der Natorp-Oberschule. Auch so genannte »Orchideenkurse«, die pro Jahrgangsstufe gewöhnlich nur eine Handvoll Schüler interessieren, können nun stattfinden, weil zwei Hände voll Schüler eben die Belegung eines Kurses ergeben. Bei den Schülern stößt diese Initiative durchaus auf Gegenliebe: »Das ist eine gute Abwechslung. Man hat mit anderen Lehrern und anderen Schülern zu tun«, sagt Marian aus der 13. Klassenstufe. Mitschülerin Sarah hält allerdings den Unterricht an ihrer Schule, der Paul-Natorp-Oberschule, für besser. Schulleiter Wüsthof wird es freuen. Er empfindet seine Schule auf jeden Fall als die schönste Berlins. Die ist zwar seit einigen Jahren eine Baustelle. »Aber kommen Sie mit«, winkt er und weist auf eine Eisentür. Passiert man die, eröffnet sich ein großes, von Säulengängen umgebenes Atrium.
Noch verwehren Bauplanen und Gerüste die Sicht. Doch wenn die Restaurierungsarbeiten abgeschlossen sind, wird sich hier tatsächlich einer der schönsten Lichthöfe Berlins befinden. Über die besondere Qualität des Baus kann man sich bereits in den oberen Etagen informieren. Schlanke Säulen und Stuckarbeiten sind hier freigelegt worden.
Doch nicht nur architektonisch überzeugt die Schule. Bei den regelmäßig veröffentlichten Listen über die Durchschnittsnoten des Abiturs hält die Paul-Natorp-Oberschule den Spitzenplatz in Tempelhof-Schöneberg. Sie steht auch berlinweit gut da. Profiliert hat sich die dreizügige Schule als fremdsprachliches Gymnasium. Englisch als erste Fremdsprache wird in Klasse sieben mit einer zusätzlichen Wochenstunde (insgesamt vier) unterrichtet, um die aus den verschiedenen Grundschulen kommenden Schüler auf ein ähnliches Niveau zu bringen.
Unterschiede in den Leistungen einzelner Schüler sind nach Erkenntnis der Oberschullehrer nicht so sehr von der Schule oder den Methoden abhängig als von den einzelnen Lehrern. Französisch und Latein werden als zweite Fremdsprache (ab Klasse sieben) oder dritte (ab Klasse 8) angeboten. Dazu kommt fakultativ als weitere dritte Fremdsprache noch Italienisch (ebenfalls ab Klasse 8). Das scheint zunächst nichts Besonderes zu sein. Auch trägt die Schule keinen Reform-anspruch vor sich her. Maßgebend für das gute Abschneiden im Schulvergleich und die auch von den Schülern gelobte gute Atmosphäre ist eher das Gesamtpaket aus kleinen, wohldurchdachten Elementen.
Blockunterricht wurde eingeführt, um den Wechsel der Fächer und Lerninhalte pro Schultag zu reduzieren und das intensivere Lernen zu ermöglichen. Fächer, für die nur eine Wochenstunde zur Verfügung steht, werden daher in einem Halbjahr mit zwei Wochenstunden unterrichtet. Stillarbeitsstunden, in denen teilweise ältere Schüler jüngeren helfen, sind eingeführt. Dieses Element aktiven Lernens hat sich vor allem an Grundschulen bewährt, ist bislang aber weniger in Oberschulen verbreitet.
Ein großes Programm an Klassenfahrten hilft, dass sich die Lernkollektive formen. Der vielfältige musische Bereich bringt wiederum Schüler der verschiedenen Jahrgänge zusammen. Er hat außerdem den Effekt, dass hier Schüler, die nicht wegen ihrer Lautstärke zu den dominanten Figuren ihrer Klasse gehören, durch ihre musikalischen Talente Respekt erwerben – und mittelfristig für eine geordnetere Lernatmosphäre sorgen können. Das jedenfalls hat Reiner Wethekam, Mathematik- und Physiklehrer sowie AG-Leiter für Gitarrenunterricht und Tontechnik, festgestellt. Und nicht zuletzt herrscht an der Schule eine gewachsene Kritik- und Feedback-Kultur. Bei Evaluierungen werden nicht nur Lehrer, sondern auch Schüler und Eltern befragt.
Im Unterricht gibt es kleine Überraschungen. Zu Beginn einer Mathematikstunde animiert Reiner Wethekam eine siebte Klasse zu ein wenig Gymnastik, um Körper und Hirne zu lockern. Die Schüler machen sichtlich begeistert mit. Wethekam stellt ihnen dann Maße und Gewichte vor. Die Schüler müssen die Ellen ihrer Nachbarn abmessen und Durchschnittswerte errechnen. Eifrig sind die meisten bei der Sache.
Weil der eigene Körper mit im Spiel ist, wird Mathematik anschaulich und beinahe zur spielerischen Nebensache. Und da Wethekam für unterschiedliche Reize sorgt und die Schüler selbst aktiv werden können, fällt gar nicht auf, dass die Sitzordnung klassisch ist und der Lehrer oft vor der Tafel steht. Ist bei der siebten Klasse der Geräuschpegel noch hoch und die Lernatmosphäre wegen der Lebhaftigkeit der Schüler nicht unbedingt ideal, so ist die Konzentration eines Politikkurses im dritten und letzten Semester fast körperlich zu spüren.
Die Schüler erarbeiten sich die Standpunkte eines Globalisierungsgegners und eines Globalisierungsbefürworters, um sie dann in einem selbst inszenierten Streitgespräch aufeinanderprallen zu lassen. Gespannte Stille herrscht, ab und an greift jemand zu seiner Wasserflasche oder Thermoskanne, ein Junge beißt herzhaft in einen Apfel. Auch beim Denken benötigt man Energie. Gleichzeitig nimmt jeder Rücksicht auf die anderen. Das Streitgespräch selbst ist weder besser noch schlechter als bei diversen Talkshows zum Thema. Es kristallisiert sich aber heraus, dass die Schüler sehr genau wissen, worum es geht und dass sie über eigene, von den offiziell vertretenen Positionen durchaus abweichende Meinungen verfügen.
Es wird deutlich: In der Paul-Natorp-Oberschule wachsen junge Menschen heran, die ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen wissen und mit ihrem Tun die Gesellschaft im Guten prägen werden. Bildungsauftrag komplett erfüllt, ist man geneigt zu sagen.
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