Der KRISTALLPALAST

Dostojewski, die Weltausstellung 1862 in London und Bruegels »Turmbau zu Babel«

Fjodor Dostojewski unternahm im Sommer 1862 seine erste Europareise; Dresden, Paris und London waren die Hauptziele. Er durfte 1859 aus Sibirien nach Petersburg zurückkehren, zehn Jahre vorher hatte ihm eine läppische Aktivität in einem läppischen Debattierklub die Todesstrafe eingebracht, die am Ort der Hinrichtung, drei Minuten vor der Erschießung, in vier Jahre Zwangsarbeit mit anschließender »ewiger« Ansiedlung in Sibirien verwandelt worden war.
Merkwürdigerweise hatte das lange gemeinsame Leben mit den Verbrechern in der Zwangsarbeit, Mushiks meist, die Verehrung für das russische Volk vertieft, und nun erschien dem Schriftsteller die gewaltige Anhäufung von industriellen Gütern in Westeuropa als ein Irrweg der Menschheit. Das Licht kommt aus dem Osten, und je weiter Dostojewski nach Westen kam, um so bedrohter erschien ihm die Welt. Eine solche Auffassung der Zivilisation blieb für ihn eine ständige Idee, und es hat zum Beispiel etwas zu bedeuten, dass der Verbrecher Raskolnikow in »Schuld und Sühne« die Reinigung seiner Seele an einem sibirischen Strom erfahren kann.
In seiner Reiseskizze »Winterliche Aufzeichnungen von Sommereindrücken« beschreibt der Schriftsteller die nach Westen zu immer stärkere Zusammenballung der Industrie, die eine Aufhäufung von gewaltigen Reichtümern, aber auch von massenhaftem Elend mit Kinderarbeit, Prostitution und Alkoholismus und dazu noch eine hemmungslose Zerstörung der Natur mit sich brachte.
Zum Symbol dieser Entwicklung wurde ihm die dritte Weltausstellung 1862 im Londoner »Kristallpalast«. »Diese Tag und Nacht betriebsame Stadt«, heißt es über London, »unendlich wie das Meer, der Lärm und das Heulen der Maschinen, diese über die Häuser hinweg (und bald auch unter den Häusern hindurch) sausenden Eisenbahnen ...« - im Jahre 1863 wurde eine erste Versuchs-Metro eröffnet. »Die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kristallpalast, die Weltausstellung ... Ja, die Ausstellung ist überwältigend. Man spürt die schreckliche Kraft, die all die zahllosen Menschen aus aller Herren Länder zu dieser einen einzigen Herde zusammengeschlossen hat ...«
Von dem »kolossalen Palast« ist die Rede, der etwas Babylonisches an sich hat und wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse wirkt, als »etwas Endgültiges«. Der Atem stockt beim Betrachten, es kommt einen das Fürchten an. »Sollte das schon das erreichte Ideal sein?... Ist das nicht das Ende?« Ideal und Ende? Die Menschen beten Baal an, den Sohn des Himmelsgottes, den Herrn der Erde - den falschen Gott.

Der »Kristallpalast« - ein Satiriker hatte über das viele Glas gespottet, doch der Name blieb dem Bauwerk - wurde 1850-51, einschließlich Entwurf, Beschluss über den Bau, Bestellung und Lieferung der gewaltigen Menge an Baumaterial sowie der Gestaltung der Ausstellungskojen, innerhalb von knapp elf Monaten auf dem Gelände des Hyde Parks erbaut, am 1. Mai 1851 eröffneten Königin Victoria und ihr Gemahl, Prinz Albert, der Initiator und oberste Organisator der Weltausstellung, dieses erste weltweite Treffen der Industrie. Gezeigt werden durften nur technische Erfindungen und neue industrielle Lösungen, keine Kunstwerke oder ethnographische Ausstellungsstücke. 17000 Aussteller aus 28 Ländern kamen, die Zahl der Besucher überschritt sechs Millionen.
Der finanzielle Gewinn war trotz der hohen Ausgaben enorm; allein schon die Beschaffung der Baugelder von 150000 Pfund Sterling setzte ein hoch entwickeltes Bankwesen voraus, das es damals nur in London gab. Der Palast selbst war das einprägsamste und technisch bedeutendste Ausstellungsstück. Auf der überbauten Fläche (563 x 124 m) hätte der Petersdom in Rom vier Mal, der Kölner Dom elf Mal Platz gehabt.
Die Ausgangsidee für den Architekten Joseph Paxton bot das Baumaterial: Die größten damals herstellbaren Glasscheiben (Länge 1,22 m) wurden zu Quadratrastern zusammengefügt, die die gesamten Außenwände bestimmten. Die Eisenträger ordneten sich diesem Maß unter, die zusammengeschraubten Stützträger dienten auch dem Abfluss des Regenwassers. Drei Geschosse von je reichlich sechs Metern Höhe bildeten die Höhe des Baus, der an einigen Stellen auch die alten Ulmen des Hyde Parks umgab. Obere Querträger waren so konstruiert, dass sie während der Bauarbeiten als Schienen für einen Verglasungswagen dienten. Eine Kompanie Soldaten testete im Gleichschritt die Festigkeit der gusseisernen Fachwerkträger für die oberen Geschosse.
Ein Jahr später wurde das Bauwerk demontiert - der mögliche Wiederabbau war eine Bedingung im Baubeschluss, daher wurden die Eisenteile nicht geschweißt, sondern geschraubt - und im damals außerhalb der Stadt gelegenen Sydenham wieder aufgebaut, nur wenig kleiner, dafür etwas gefälliger. Eine Eisenbahnlinie wurde dorthin gelegt, und seitdem diente die Riesenhalle, so wie heutzutage allerlei City-Centers in vielen Städten der Welt, den Ausflüglern in der regenreichen Stadt. Große botanische und zoologische Ausstellungen dienten der Bildung und der Forschung, und 1862 fand hier die dritte Weltausstellung statt, die auch Dostojewski zu ihren Besuchern zählte. Er lernte ein bewundernswertes, hochmodernes Bauwerk kennen und erschrak über solcherlei drängenden Fortschritt, der ihm als eine eklatante Fehlentwicklung der Welt erschien.
Dostojewski hatte Anfang der vierziger Jahre an der Petersburger Hochschule für Militäringenieure studiert und dort auch das Diplom erworben. Er hat zwar in seinem Beruf nie gearbeitet, doch wusste er die technische Leistung eines solchen gigantischen Bauwerks einschließlich der Unzahl von Exponaten zwei Jahrzehnte später wohl einzuschätzen. Hier spricht also nicht ein durch die Zivilisation eingeschüchterter weltfremder Sibirier, sondern ein Schriftsteller, der die Schicksale der Menschheit im Blick hat. Ihn schaudert »angesichts der gigantischen Größe, angesichts des titanischen Stolzes des herrschenden Geistes, angesichts der triumphalen Endgültigkeit der Schöpfungen dieses Geistes.« (Deutsch hier wie auch oben von Walter Rudolf.)

Pieter Bruegels großartiger »Turmbau zu Babel« aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum gehört in diesen Zusammenhang. Eine gewaltige Investruine ist zu sehen, ein ungewöhnlich großes Bauwerk, das nie vollendet werden wird. Das Bild wird meist falsch gedeutet: Die Bibelstelle von der Sprachverwirrung, die Gott den Bauleuten dafür geschickt hat, dass sie mit Selbstüberhebung einen Turm bis zum Himmel bauen wollten, ist im Kopf des Betrachters, und der schaut nicht genauer hin. Es wäre durchaus ein Bruegel-Thema: Der Maler konnte trefflich spotten über die Dummheit der Menschen und über ihre Starrheit, bei einem Irrtum zu verharren.
Dabei wird übersehen, dass Bruegel die göttliche Strafe - die Bauleute verstehen einander nicht mehr, und so wird die Fertigstellung des Werks unmöglich - in einem früheren »kleinen Turmbau« schon abgearbeitet hatte. Dieses kleinere Ölbild ist in einer Privatsammlung versteckt, und man kennt nur Reproduktionen davon. Das Sujet aber ließ ihm offenbar keine Ruhe, und es gab mehr her: Schließlich werden in der Weltstadt Antwerpen nicht nur Bauarbeiter gleicher Sprache gearbeitet haben, und er konnte wohl beobachten, dass weit komplizierteren Unternehmungen, als es ein simpler Turmbau ist, die Sprachbarrieren nichts anhaben konnten.
Aus dem Bau aber kann nichts werden. Der Betrachter sieht sofort, dass die gesamte Anlage, vom Grundriss angefangen, nicht stimmt. Alles steht schief, und zwar nach verschiedenen Seiten hin, das kann weder halten noch einen praktischen Sinn ergeben. Nun haben bildkünstlerische Werke die Eigenheit, dass sie dort veralten können, wo sie Technisches zum Inhalt haben. Und an diesem Punkt beginnt der gegenwärtige Betrachter überheblich zu werden: Man müsste eine Gruppe von Architekturstudenten heranlassen, die erforschen könnten, wie man mit teilweisem Rückbau, Einfügen von zusätzlichen Trägern, Einsatz von Spezialkränen und modernem Baumaterial das Werk vollenden könnte. Doch wozu? Damit das Denkmal der Selbstüberhebung der Menschen doch noch zu Stande kommt?
Auf dem Bild aber ist noch etwas zu sehen: ganz kleine Leute arbeiten überall fleißig und wohl auch selbstvergessen auf den verschiedenen Etagen des Baus, einer klettert eine Leiter hinauf, einige bedienen einen Kran, andere tragen ein Mörtelfass. Sie sehen nicht, dass das ganze Werk falsch geplant ist, doch sie arbeiten - wohl in der Überzeugung, an Bedeutsamem beteiligt zu sein. Die Erkenntnis von der Strafbarkeit der menschlichen Selbstüberhebung ist ihnen fremd.

Ein Reisebüro, das uns im Sommer einen London-Aufenthalt vermittelte, brachte uns in einem Hotel unter, das in den Docklands steht, im Osten der Stadt, dem früheren verfallenen Armenviertel, in das Charles Dickens seinen David Copperfield kommen lässt. Ein König hat hier früher seine Hunde gezüchtet, und später hat er hier noch eine Waffenschmiede eingerichtet. In den Jahrhunderten danach wurden an der Stelle die Docks gebaut, mit dem üblichen Lärm und Dreck - und mit unterbezahlten Arbeitern, Hafenkneipen. Dort entsteht jetzt ein gewaltiger Hochhauskomplex aus vorwiegend Bürobauten. Irgendeine materielle Produktion ist da unmöglich, nur Verwaltungen, Computerdienste, Redaktionen, Hotels. Häuserhöhe 50 bis 60 Stockwerke, doch sind die Gebäude ungewöhnlich korpulent und bieten also auch in der Tiefe viele Arbeitsplätze. Dazu eine riesige Metrostation, die wohl auch in Spitzenzeiten, wenn die Bürostadt fertig ist, ein Gedränge nicht entstehen lassen wird. Man schaut Abend für Abend aus dem Hotelzimmerfenster auf das faszinierende Schauspiel des Großbaus, und man ist überzeugt, hier das 21. Jahrhundert Europas zu sehen. Doch wir waren vor dem 11. September dort. Heute hat sich die Bewunderung in die Überzeugung verkehrt, dass wir einen neuen Punkt gesehen haben, an dem die Menschheit gefährdet ist und zum Tod kommen kann.

Was tun? Die Empörung über das entsetzliche Attentat vom 11. September ist weltweit zu beobachten, die Empörung über das untaugliche Mittel eines Krieges gegen das ärmste Volk der Welt wächst sichtlich. Wünschen wir uns in diesem Krieg keine Siege: sie würden die Auflehnung der Völker, die, materiell gesehen, im Mittelalter leben müssen, gegen die Reichen dieser Welt verstärken.
Was also tun? »Rückbau« der Zivilisation? Die »Kristallpaläste«, die Docklands abreißen`? Unsinn, nicht in den Errungenschaften der Zivilisation, nicht in den Erfindungen und technischen Leistungen liegt das Problem. Also verbleibt nur eins: »Rückbau« der Selbstüberhebung der Menschheit, genauer: ihres überheblichsten Teils. Dostojewski hatte angesichts der unbeschreiblichen Notlage der russischen Bauern die Verschwendung in Paris und London als gigantische Provokation angesehen. Was denken die zwei Milliarden hungernden Menschen in unserer Zeit, wenn sie täglich oder gelegentlich Bilder aus dem Glitzerfernsehen anschauen?
Wir haben den babylonischen Turm doch nicht zu Ende gebaut, er ist am 11. September eingestürzt, weil die gesamte Anlage, vom politischen »Grundriss« angefangen, nicht gestimmt hat. Vor uns steht eine gewaltige Aufgabe: die Unterschiede im Wirtschafts- und Kulturniveau zwischen den Erdteilen abzubauen, der Menschheit ein möglichst einheitliches Fundament für ihr Weiterleben zu schaffen. Der Krieg ist dafür das ungeeignetste Mittel, er wird die Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit nur vergrößern.
Der Leipziger Slawist Prof. Dr. Roland Opitz ist Prä...

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