Dunkle Wolken über dem Regenbogen
Interview mit dem Theologen Michael Skriver (Kapstadt) über die fremdenfeindliche Gewalt in Südafrika und ihre Folgen
ND: Die Gewaltexzesse gegen Ausländer in Südafrika sind aus den Nachrichten verschwunden. Hat sich die Lage wieder normalisiert?
Skriver: Davon kann keine Rede sein. Zumal Gewaltexzesse hierzulande zur täglichen »Normalität« gehören. Dass sie diesmal den Weg in die Weltnachrichten fanden, lag neben der außergewöhnlichen Dimension vor allem daran, dass die meisten der Opfer keine Südafrikaner waren. Die bedrohten Ausländer leben jetzt in Zeltstädten unter Polizeischutz. Allein im Süden von Johannesburg wurde ein Camp mit 600 Zelten errichtet. Aber in ein paar Wochen sollen diese Provisorien wieder abgebaut werden. Eine neue Krise ist also programmiert. Tausende Immigranten, denen das irgendwie möglich ist, sind bereits in ihre Heimatländer zurück gereist. Zum Beispiel nach Simbabwe. Unter dem zynischen Motto: Lieber im unfreien, heruntergewirtschafteten Simbabwe verhungern als im freien, reichen Südafrika totgeschlagen zu werden. Obwohl die südafrikanische Regierung den Immigranten Hilfe bei der Reintegration zugesagt hat, haben viele kein Vertrauen in eine weitere Zukunft in ihren bisherigen Gastsiedlungen. Einigen scheint es gelungen zu sein, andere fühlten sich nach wie vor unwillkommen. Sich ganz neu woanders in Südafrika niederzulassen, dazu fehlen den meisten der Mut und das Geld.
Wie reagierte die südafrikanische Öffentlichkeit?
Der Schock hätte kaum tiefer sitzen können. Immerhin lebte die afrikanische Gesellschaft in dem Glauben, schwarze Südafrikaner seien zu Gewaltakten dieser Art nicht fähig – ein Glaube, der sich buchstäblich über Nacht auflöste. Dass solche Untaten keineswegs als »Privileg« der weißen Gewaltherrschaft zu Zeiten der Apartheid einer überwundenen Vergangenheit angehören, ist für das Land eine völlig neue, sehr schwer zu verarbeitende Erfahrung.
Welche Erklärungen wurden für die Ausbrüche gefunden?
In den letzten Wochen kamen fast täglich neue Theorien auf den Meinungsmarkt, mitunter die eine abstruser als die andere. So wurden hinter den Exzessen Kräfte vermutet, die in Südafrika die Austragung der Fußballweltmeisterschaft 2010 unmöglich machen wollen. Schuld an der Eskalation sei – wie so oft – Staatspräsident Thabo Mbeki, behaupten andere, um die durchsichtige Forderung anzuschließen, dass dessen umstrittener Rivale Jacob Zuma endlich erster Mann im Staate werden müsse – egal, ob er wegen Korruption verurteilt wird oder nicht. Auch Simbabwes mit allen Mitteln um seine Macht kämpfender Präsident Robert Mugabe wird als Drahtzieher des Terrors gehandelt. Angeblich will er geflohene Untertanen auf diese Weise zurückholen und sie mit Landversprechungen auf seine Seite ziehen. Überflüssig zu sagen, dass alle diese Deutungen am Kern der Ereignisse vorbeigehen.
Und dieser Kern wäre?
Die Ausschreitungen fanden in fünf der insgesamt neun Provinzen Südafrikas statt. Ihren Ausgang nahmen sie im Township Alexandria, einem extrem armen Viertel in unmittelbarer Nähe der reichsten Vororte Johannesburgs. Elende Wohnverhältnisse, Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheiten bestimmen dort das Leben der Menschen. Seit 14 Jahren warten sie darauf, dass die Versprechungen der Regierung Realität werden: das Ende der Armut; Häuser, die diese Bezeichnung verdienen; menschenwürdige Versorgung mit Wasser und Elektrizität; die Schaffung von Arbeitsplätzen ... Vor allem der letzte Punkt ist ein wesentlicher Auslöser der Pogrome.
Die Angst vor der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt?
Südafrika ist das wirtschaftlich am stärksten entwickelte Land des Kontinents. Hunderttausende Afrikaner aus Simbabwe, Mosambik, Somalia, Äthiopien, Nigeria und anderen Staaten sind in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten nach Südafrika gekommen – in der Hoffnung auf freiheitliche Grundrechte, Beschäftigung und Wohlstand. Mit der demokratischen Wende am Kap und dem Ende der Apartheid hat sich die Zuwanderung radikal verändert. In den Jahrhunderten zuvor waren es vor allem Wanderarbeiter, deren Zustrom reglementiert war, um insbesondere der Landwirtschaft und dem Bergbau billiges Personal zuzuführen. Die neuen Immigranten sind anders, weil sie oft besser gebildet und ausgebildet sind als die Ärmsten der Armen in den Slums. Sie sind in der Regel auch sehr fleißig und nicht wählerisch in Bezug auf Verdienstmöglichkeiten. Sie nehmen Arbeiten an, wo sie diese finden können, Arbeiten insbesondere, zu denen die Einheimischen nicht unbedingt drängen. Die Immigranten warten nicht auf staatliche Hilfe, setzen auf ihre eigene Kraft und ihren Ehrgeiz. Viele von ihnen sind erfolgreich. Auf einmal wohnen sie inmitten von Slums in besseren Behausungen, eröffnen Geschäfte, verdienen gutes Geld, richten sich besser ein. Und die Reaktion der den sogenannten Unterschichten zugehörigen Einheimischen? Neid ist zwar eine sehr unschöne, aber auch sehr menschliche Eigenschaft. Die Fremden nehmen uns die Arbeit und das Essen und – oft genug – die Frauen weg, heißt es, sie berauben uns der Chancen auf ein besseres Leben. Und wen trifft die Rache dafür? Nicht die reichen Einheimischen und reichen Immigranten im burgartig befestigten Johannesburger Stadtteil Sandton – was gleichfalls absurd und ungerecht wäre –, sondern »die Anderen« da nebenan und gegenüber, die den grausamen Exzessen vollkommen schutzlos ausgeliefert waren. Dass man sie oft auch an der dunkleren Hautfarbe oder ihrer fremden Sprache erkennt, kommt hinzu, sollte aber nicht als der entscheidende Zündfaktor angesehen werden.
Es gibt Versuche, die Ausschreitungen mit der durch Jahrhunderte von Gewalt und Gegengewalt geprägten Psyche des südafrikanischen Volkes zu erklären.
In der Tat ist die Verarbeitung der Vergangenheit vor 1994, dem Ende der Apartheid durch freie Wahlen, in einem Konflikt stecken geblieben, der in der Öffentlichkeit nach wie vor tabuisiert wird. Der entscheidende Wechsel wurde gewaltlos und unblutig vollzogen, was eine historische Leistung darstellt, die nicht zu überschätzen ist; und wohl selten war eine Friedensnobelpreisvergabe so unumstritten wie die an Nelson Mandela und Frederik Willem de Klerk. Aber die Beziehung zur Gewalt als Mittel im Befreiungskampf bis zu dem Zeitpunkt, da der Wechsel im gewaltfreien Prozess vollzogen wurde, ist bis heute nicht kritisch hinterfragt worden. Im Unterschied zu Erzbischof Desmond Tutu, ebenfalls Friedensnobelpreisträger und zudem strikter Anhänger der Idee der Gewaltlosigkeit, hat Nelson Mandela leider nie auf eine differenziertere Sicht in dieser Frage gedrängt. Zwar sieht sich Mandela selbst in geistiger Verwandtschaft zu Mahatma Gandhi, der ja viele Jahre in Südafrika arbeitete und politisch wirkte. Aber dessen Strategie der Gewaltlosigkeit zog Mandela nur kurzzeitig in Erwägung, um dann zu entscheiden, dass sie unter den Bedingungen Südafrikas ungeeignet sei.
Die Legitimität des bewaffneten Kampfes wurde seinerzeit und wird auch heute in der weltöffentlichen Meinung nicht in Frage gestellt. Ebenso wenig sein Einfluss auf die historische Wende.
Das ist ja auch unbestritten. Problematisch ist dabei allerdings, dass diese Gewaltphase bis in die Gegenwart zunehmend heroisiert wird und die gewaltfreie Periode der Versöhnung dagegen verblasst. Was wohl auch damit zu tun hat, dass große Teile des ANC die eminente Bedeutung von de Klerk (Präsident 1989-94 - I. B.) und seinem Kurs für das Ende der Apartheid nur halbherzig einräumten. Die Folge einer solchen Ideologie ist so kurzschlüssig wie fatal. Viele Menschen, deren Lebensumstände trotz politischer Freiheiten unbefriedigend sind, erklären einfach: Der Befreiungskampf ist für uns noch nicht zu Ende. Wir sind noch immer von Armut, Not und Elend versklavt. Die »Anderen« haben das, was eigentlich uns zusteht ...
Die Anderen – das sind bei den aktuellen Ereignissen vor allem nicht-südafrikanische schwarze Afrikaner. Ist Südafrika ein fremdenfeindliches Land?
Dieses Stigma wäre das Fatalste und Falscheste, was bleiben könnte. In den hiesigen Medien ist die Rede von »xenophobic violence«, was meist mit fremdenfeindlicher Gewalt übersetzt wird. Aber der Begriff Xenophobie ist irreführend. Griechisch »xenos« meint nicht nur »fremd«, sondern vor allem »anders«. Dieses Andere bezieht sich nicht in erster Linie auf eine dunklere Hautfarbe, die Herkunft, die Sprache ... Das sind eher Marginalien. Es handelt sich, wie gesagt, vor allem um ein kolossales soziales Problem, das innerhalb einer sich besonders benachteiligt fühlenden Gruppe zu dieser Gewalt führte. Nicht Schwarz gegen Schwarz, sondern Arm gegen Arm beziehungsweise Ärmer gegen Arm – die eine Konstellation so widersinnig wie die andere.
Welche Folgen wird die aktuelle Krise auf den inneren Zusammenhalt Südafrikas haben?
Die Verurteilung der Gewaltorgien durch die südafrikanische Gesellschaft ist einhellig. Schwarz und Weiß, Regierung und Opposition, Massenmedien und Organisationen – es gibt auch nicht ansatzweise den Versuch, die Exzesse zu rechtfertigen. Und das nicht nur wegen der Fußball-WM und des Tourismus. Es herrscht ehrliches Entsetzen über die Möglichkeit solcher Entwicklungen in der auf ihr multiethnisches Gefüge so stolzen »Regenbogennation«. Die gesamte Bevölkerung war und ist von einem starken Mitgefühl geeint mit den Opfern. So haben die Herausgeber großer Zeitungen zusammen mit Geschäftsleuten drei Millionen Rand (etwa 240 000 Euro - I. B.) für die Flüchtlinge gespendet. Obwohl eine große Ratlosigkeit herrscht, liegt in dieser Empathie ein großes Potenzial an Hoffnung für die Zukunft Südafrikas.
Trotzdem bleiben die gravierenden sozialen Probleme ungelöst.
Eine Lösung wird es kurzfristig auch nicht geben. Nach dem politischen Sieg des ANC erwartete vor allem die schwarze Bevölkerung eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. In einem extrem ehrgeizigen, später aber aufgegebenen »Reconstruction and Development Program« sollten bis Ende der 90er Jahre die Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung befriedigt werden. Doch das hohe Bevölkerungswachstum ließ die Elendssiedlungen am Rande der Großstädte weiter anwachsen. Immerhin wurden nach Regierungsangaben in den letzten drei Jahren 1,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Dennoch liegt die offizielle Erwerbslosenquote über 25 Prozent und die große Frage ist, ob und wann der versprochene und erwartete Wohlstand »ganz unten« ankommt. Und dafür benötigt Südafrika nicht zuletzt auch qualifizierte ausländische Arbeitskräfte, was durch die aktuellen Vorgänge nicht gerade erleichtert wird. Zudem machen es die Einwanderungsbehörden interessierten qualifizierten Antragstellern schwer und auch teuer, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Auf der anderen Seite wandern viele junge und gut ausgebildete Menschen aus, weil sie entweder zu gering entlohnt werden oder weil sie ungleiche Karrierechancen im neuen Südafrika vorfinden, eine umgekehrte Apartheid. Allerdings haben die Pogrome das Land in einer Weise aufgeschreckt, die Anlass zu der Hoffnung gibt, dass über alle diese Fragen tiefgründiger nachgedacht wird und sich vor allem auch eine gesellschaftliche Debatte dazu entwickelt. Zu Ende ist dieses Kapitel noch lange nicht – auch wenn es vorerst aus den Schlagzeilen verschwunden ist.
Interview: Ingolf Bossenz
Südafrika gedenkt heute mit einem nationalen Trauertag der Opfer der fremdenfeindlichen Übergriffe. Der Tag werde dem Respekt gegenüber denjenigen gewidmet sein, »die während der Welle der Gewalt ihr Leben verloren haben«, erklärte die Regierung. Unter anderem ist eine Trauerzeremonie in der Hauptstadt Pretoria geplant. Bei den Angriffen auf in Südafrika lebende Ausländer waren offiziellen Angaben zufolge mindestens 62 Menschen getötet worden, darunter auch 21 Südafrikaner. Die Gewaltexzesse hatten Mitte Mai in einem Vorort von Johannesburg begonnen und sich auf zahlreiche Städte ausgeweitet. Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen flohen Zehntausende Menschen vor den Ausschreitungen. Rund 30 000 leben jetzt in Camps.
Michael Skriver (72) studierte evangelische Theologie in Marburg, Hamburg, Tübingen und Erlangen. 1961-63 war er Sekretär des Deutschen Zweigs des World Congress of Faiths. 1965 ging er als Pfarrer für die deutsche Gemeinde gemeinsam mit seiner Frau nach Windhoek (Südwestafrika / Namibia), das er nach Konfrontationen mit Nazitum und südafrikanischer Apartheid-Polizei 1968 vorzeitig verließ. 1968-72 Studium der klassischen Homöopathie, Naturheilkunde und Osteopathie in Johannesburg, Südafrika, wo er dann eine Praxis betrieb, ab 1976 bis 2001 in East London (Ost-Kap). Skriver lebt jetzt als freier Religionsforscher mit seiner Frau in Kapstadt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.