Fremde in unserer Mitte
Merle Hilbk ist durch das »russische Deutschland« gereist
Vor etwa zehn Jahren arbeitete ich in einem Jugendklub am östlichen Rande Berlins. Einer meiner Kollegen hießt Dieter, ein ungewöhnlich altmodischer Name für einen 19-Jährigen. Dieter leistete in dem Klub seinen Zivildienst ab. Er war ausgesprochen fleißig, engagiert und wissbegierig. Nicht nur darin unterschied er sich von Gleichaltrigen. Dieter sprach fließend, aber mit unüberhörbarem Akzent, deutsch. Erst ein paar Jahre zuvor war er mit seinen Eltern aus Kasachstan nach Berlin gekommen, einer der sogenannten »Spätaussiedler« mit deutschem Namen und Pass, aber mit sowjetischer Herkunft. Die Jugendlichen in unserem Klub mochten Dieter. Aber sie nannten ihn Dimitri. Er war »der Russe«.
Die »Russlanddeutschen« stellen mit Abstand die größte Gruppe derer, die nach 1990 aus den einstigen Sowjetrepubliken nach Deutschland gekommen sind, um hier ein neues Leben zu beginnen. Aber auch Zehntausende russische Juden und Arbeitsmigranten machten sich auf den Weg gen Westen. Die Journalistin Merle Hilbk ist mit der Bahn quer durch das Land gefahren, um mehr über die Lebensweisen, Träume und Sorgen dieser Menschen zu erfahren und in einer knapp 300-seitigen Reisereportage zu dokumentieren. Denn obwohl mehrere Millionen »Russen« unter uns leben, wissen die meisten Deutschen erstaunlich wenig über sie. Ich glaube, dass Dieter uns seine Geschichte gern erzählt hätte. Aber es hat ihn niemand danach gefragt.
Wo Ängste und Vorurteile, Sprachbarrieren und Oberflächlichkeit ein Näherkommen erschweren, kann ein Buch wie dieses hilfreich sein, das Andere zu begreifen. Hilbk führt ihre Leser in das Aufnahmelager Friedland und in die Eigentumswohnung ihres Großonkels, der samt Familie selbst aus Kasachstan nach Deutschland kam. Sie fängt große Träume und deren kleinen Verwirklichungen ein, konterkariert die konservativen Vorstellungen »deutscher Tugenden« bei ihrer Verwandtschaft mit den eigenen. Hilbk taucht ein in die allzu oft argwöhnisch beäugte oder schlicht ignorierte Parallelgesellschaft. Sie besucht »Russen-Ghettos« in kleinen und großen Städten und lässt sich durch Justizvollzugsanstalten führen, in denen die »Russen« sich schon wegen ihres Ehrenkodex ins Abseits manövrieren: Undenkbar, dass ein Mann den Fußboden wischt, selbst unter Androhung von Sanktionen.
Hilbk singt auf »Bardentreffen« Okudschawa-Lieder mit, lässt sich von einer russischen HipHop-Truppe zur Probe einladen und besucht russische Diskotheken, in denen sie gleich negativ auffällt, weil sie statt kurzem Röckchen und blonden Strähnchen braune Cordhosen trägt und ungeschminkt ist. Sie staunt über den neurussischen Reichtum, auf den sie in Baden-Baden trifft. Sie macht einen Fußballklub im Odenwald ausfindig, der dank der vielen »russischen« Spieler innerhalb einer Saison vom Abstiegskandidaten zum Aufsteiger in die Landesliga wurde. Sie verabredet sich mit dem deutschen »Oberrussen« Wladimir Kaminer – und wird versetzt. Kurz: Sie erzählt eine Menge mehr oder weniger spannender Geschichten. Es sind Geschichten vom Leben in einer Fremde, die Heimat werden soll – oder geworden ist. Geschichten vom Ringen um Identität.
Die »Chaussee der Enthusiasten«, die dem Buch seinen Titel gab, ist eine geschichtsträchtige Moskauer Straße, auf der für ein paar von Hilbks Protagonisten der Weg in den Westen begann. Kein schlechter Titel, wenn man den treibenden »Enthusiasmus« der Auswanderer hervorheben will. Irreführend für den Buchkäufer ist nur, dass seit fast zehn Jahren unter diesem Namen eine beliebte Berliner Lesebühne von sich reden macht und auch publiziert. Im Buch spielt sie keine Rolle, warum auch? Sind ja keine Russen. Etikettenschwindel ist's trotzdem.
Merle Hilbk: Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durch das russische Deutschland. Aufbau Verlag, 286 S., geb., 17,95 EUR.
Lesung und Tanz am Sa., 27.9., ab 21 Uhr, im Roten Salon, Berlin.
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