Das doppelte Mandat des Kindergartens: Bildung und Betreuung

Bündnisgrüne sehen erheblichen Reformbedarf in der vorschulischen und schulischen Bildung

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Als Chance für einen neuen Diskurs über eine Bildungsreform bezeichneten gestern in Berlin Vertreter der Grünen die Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA. Die Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Bildung, Sybille Volkholz, forderte unter anderem einen Ausbau der frühkindlichen Bildungsangebote und sprach sich für eine längere Grundschulzeit aus.

Irgendwo zwischen hektischem PISA-Aktionismus und Untätigkeit wollen die Grünen ihr Positionspapier zu PISA verstanden wissen, betonten Niombo Lomba vom Bundesvortand von Bündnis 90/Die Grünen und Sybille Volkholz gestern vor der Presse. Fünf Handlungsfelder haben sie in ihrem Papier niedergeschreiben, das von der Bundesarbeitsgemeinschaft erarbeitet und vom Bundesvorstand dieser Tage »wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde«, wie die frühere Berliner Bildungssenatorin Sybille Volkholz sagte. Kindertagesstätten, so Niombo Lomba, müssten zu Erziehungs- und Bildungseinrichtungen entwickelt werden und den gleichen Rang erhalten wie die Schulen. Ein Zusatzpapier zur gestrigen Erklärung wurde von der BAG Bildung mit dem bedeutungsreichen Titel »Bildung und Betreuung - das doppelte Mandat des Kindergartens« überschrieben. Für dieses doppelte Mandat müsse auch mehr Geld ausgegeben werden, betonte Sybille Volkholz. In einem ersten Schritt soll der Besuch des Kindergartens ab dem 5. Lebensjahr für wenigstens fünf bis sechs Stunden täglich beitragsfrei gestellt werden. Langfristig streben die Grünen eine gänzlich kostenfreie Kindertagesstätte an. Gegenfinanziert werden soll dies durch eine Kappung oder möglicherweise völlige Abschaffung des Ehegattensplittings. Hierzu werde bald ein detailliertes Konzept vorgelegt, erklärte Volkholz. Die Aus- und Weiterbildung der Erzieher und Erzieherinnen soll nach den Vorstellungen der Grünen ebenfalls reformiert werden. Um pädagogische Kompetenzen zu stärken, wollen die Grünen die Ausbildung der Erzieher und Erzieherinnen von den Fachschulen an die Fachhochschulen verlagern. Die bessere Qualifikation des pädagogischen Personals an den vorschulischen Einrichtungen müsse sich selbstverständlich positiv auf deren Bezahlung auswirken, betonte Sybille Volkholz. Der Vorschul- und Grundschulbereich in Deutschland sei im Vergleich beispielsweise zu den skandinavischen Ländern unterfinanziert. Es müsse deutlich mehr Geld in diesen Sektor fließen. An den Schulen müsse die pädagogische Didaktik auf den Prüfstand, forderte Sybille Volkholz weiter. PISA habe in erschreckendem Maße die mangelhafte Fähigkeit deutscher Schüler zum selbst organisierten Lernen offenbart. Die Schüler müssten wieder »lernen zu lernen«. Der Typ Lehrer, der sich als Einzelkämpfer durch den Schulalltag schlage, gehöre der Vergangenheit an. Lehrer sollten sich über Lernprozesse, -ziele und -methoden austauschen können. Volkholz hält deshalb die Einführung einer Präsenzpflicht für Lehrer von 35 Unterrichtsstunden pro Woche für notwendig. Zugleich plädierte sie dafür, bei der Ausbildung der Lehrer den Schwerpunkt auf die Vermittlung pädagogischer und didaktischer Fähigkeiten zu setzen. Auch müsse mit der bislang üblichen Trennung der Lehrerbildung nach Schulformen Schluss sein. Schulen sollten zu offenen Einrichtungen werden, mit ehrenamtlicher Mitarbeit von Eltern, aber auch mit bezahlter Arbeit von Sozialarbeitern, Künstlern, Sportlern oder Handwerkern. »Mit einem Schriftsteller als Lehrer "sich selbst als Schriftsteller zu erproben" kann mehr Erfolg bringen als eine Stunde "Deutsch"«, heißt es dazu im Positionspapier der BAG Bildung. Gerade für Kinder aus sozial benachteiligten oder Migrantenfamilien seien diese »sozialen Netzwerke« geeignet, um eine Verbesserung der schulischen Leistungen zu erreichen. Ebenso wie die Mehrzahl der Bildungspolitiker anderer Parteien erteilten die beiden grünen Bildungsexpertinnen allerdings einer neuerlichen Schulstrukturdebatte eine Absage. Ein Plädoyer für das früher bei grünen Politikern wohlgelittene Gesamtschulsystem fehlt in dem Positionspapier. Volkholz und Lomba wollen die Veränderung an der Einzelschule, »die sich strukturell entwickeln und verändern muss«. Bestrebungen einzelner Bundesländer, früher mit der Aufteilung der Schüler auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium zu beginnen, erteilten die beiden Politikerinnen eine Absage. Es sei einer der Kernpunkte der PISA-Studie, dass gerade die Länder, die ihre Schüler so lange wie möglich gemeinsam unterrichteten, besonders gute Ergebnisse bei den PISA-Tests erzielten. In Deutschland orientiere sich der Unterricht an einem falschen Leitbild: Alle Schüler sollen in der gleichen Zeit das gleiche Lernziel erreichen. Leistungsstarke und leistunsschwache Schüler würden aus diesem Grund durch das Raster fallen. Wenig Verständnis hat Sybille Volkholz für die Weigerung der Kultusminister, das deutsche Bildungssystem regelmäßig von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) testen zu lassen. Die Kultusministerkon...

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