Isoldes Welt
Die älteste aktive Tierschützerin Berlins wurde für ihr Lebenswerk geehrt
Der Stand ist aufgebaut. Informationsmaterial und Unterschriftenlisten gegen Tierversuche liegen aus. Dem jungen Mann hinter dem Tresen tut der Rücken weh, und er friert. Es regnet. »Wie lange denn noch?«, quengelt er, »das ganze Papier ist schon durchgeweicht.« Irgendwann, nach zwei, drei Stunden, verdrückt er sich.
Auch Isolde Kauffmann friert. Man sieht es ihr an. Mit nur 47 Kilo bei nur 1,52 Metern Körpergröße friert sie schnell, eigentlich immer. Sie klagt nicht, sie hält die Stellung. Dass sie schon 88 ist, sieht man der kleinen Frau mit dem blondgefärbten Haar und dem rotgeschminkten Mund nicht an.
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Isolde Kauffmann ist Herrin der Info-Stände bei den Tierversuchsgegnern Berlin-Brandenburg e.V. Sie plant, organisiert, packt ein. Bleibt freundlich – das hat sie lernen müssen. Heute bewahrt sie Contenance, wenn man ihr zuruft: »Spinner!« »Stellt euch doch selbst zur Verfügung!«, »Was macht ihr denn, wenn euer Kind krank ist, da braucht ihr doch auch Medikamente!«, »Nehmt Strafgefangene, Kinderschänder!« Früher hat sie zurückgemotzt: »Jede Laus ist mir lieber als ein Mensch!« Das ging gar nicht. Brigitte Jenner, Vorsitzende des Vereins, hat es ihr in aller Deutlichkeit gesagt. »Wenn du dich nicht in den Griff kriegst, Isolde, kannst du hinter keinem Stand mehr stehen.« Isolde Kauffmann verteidigt sich heute noch: »Menschen, die so etwas sagen und dann einfach weitergehen, wollen sich nicht auseinandersetzen. Sie provozieren, reizen mich bis aufs Blut.« Die Frau, die schnell friert, ist heißblütig.
Früheste Kindheitserinnerung: ein totes Pferd. Es lag auf der Straße, als sie vorbeiging, in Berlin-Steglitz, wo sie aufwuchs, in den Goldenen Zwanzigern. Wahrscheinlich ein Unfall; sie war vier. Natürlich hat sie dieses Bild nicht ihr Lebtag vor Augen gehabt, doch verblasst ist es nicht. Tiere sollten in ihrem Leben immer eine Rolle spielen. Der Hund, der zur Familie gehörte und ihr »eine neue Welt eröffnete«. Sie sagt: »Tiere sind Mitgeschöpfe.«
Die Mutter sorgte für den Haushalt, der Vater war kaufmännischer Angestellter – kleine Leute mit sauberer Gesinnung. Man genoss die Weimarer Zeit. Der Teenager besucht eine Charell-Revue, sieht Marianne Winkelstern tanzen, ein Star im damaligen Berlin, im rosa Tutu, so schön war das, dass sie beschloss, selbst Tänzerin zu werden. Für eine Ausbildung an einem renommierten Institut reichte es nicht, doch man konnte auch anderswo tanzen lernen, und so schlecht kann sie nicht gewesen sein, denn sie wurde aufgenommen ins Ensemble der Deutschen Staatsoper. Kleine Solopartien tanzte sie, immerhin, »ich habe mir nie eingebildet, eine Semjonowa oder Ulanowa zu sein, so begabt bin ich nicht gewesen, später, als Tanzpädagogin, war ich besser«.
Wilhelm Furtwängler dirigiert. Andere müssen Deutschland verlassen, er nicht; obwohl er es könnte, bleibt er. »Er hatte hier seine Möglichkeiten gefunden«, formuliert sie, wobei sie den rotgeschminkten Mund spitzt. Der Jude Moriz Seeler durfte nicht bleiben. Seeler, der »Die Junge Bühne« gegründet, Brecht, Bronnen, Zuckmayer und Marieluise Fleißer bekanntgemacht hatte, war eine schillernde Figur in der Berliner Kunstszene, »etwa wie später Fassbinder«. Von den Nazis mit Berufsverbot belegt, wohnt Seeler in einem Hinterhaus; ihr Tanzpartner Michael Piel und sie halten den Kontakt zu ihm.
Dass ihr jede Laus lieber sei als ein Mensch – Isolde Kauffmann muss sehr zornig gewesen sein, als sie sich hinreißen ließ zu diesem Satz. Denn er stimmt nicht. Sie, die Tiere »Mitgeschöpfe« nennt, hat die Fähigkeit mizufühlen. Auch und vor allem mit Mitmenschen. Und natürlich hat sie Angst. »Ein junges deutsches Mädchen, das zu einem Juden geht, wäre in Ravensbrück gelandet.« Nach Ravensbrück will sie auf keinen Fall, sie beschließt, wenn sie bei Seeler erwischt wird, aus dem Fenster im vierten Stock zu springen. Das bleibt ihr erspart. Seeler bleibt nichts erspart. Michael Piel sammelt zwar viel Geld unter den Berliner Künstlern – auch Gustaf Gründgens, damals Leiter der »Schaubühne«, hat spontan tausend Mark gegeben –, um Seeler die Flucht in die Schweiz zu ermöglichen, doch Seeler wird verraten und deportiert. 1942 stirbt er in Riga.
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Wenn es 1945 in Deutschland hieß, man habe alles verloren, dann meinte man damit allzuoft den Mann, die Wohnung, die Kleidung, das Ersparte, den Glauben, die Hoffnung, den Lebenssinn. Auch Isolde Kaufmann hatte viel verloren, aber nicht alles. Geglaubt hatte sie nie, jetzt hoffte sie. Und sie hatte einen Koffer gerettet, einen Koffer mit ihren Kostümen. Was zunächst unbedeutend schien, erwies sich bald als lebenswichtig: »Die Sowjets waren daran interessiert, dass der Kulturbetrieb schnell wieder anlief, die Leute wollten abgelenkt werden. Doch nur, wer noch Kostüme besaß, konnte wieder auftreten.« Als erstes eröffnete das Marmorhaus, ein Filmtheater am Ku'- damm, wieder. Zum Film gab es eine Show: »Wir tanzten!« Nach der Show wurden sie von russischen Offizieren gefragt, ob sie zur Truppenbetreuung bereit wären. »Wir berieten uns, die Männer sagten zu. Uns Frauen sollte es überlassen bleiben, ob wir uns ebenso entschieden. Ich war bereit, ich war so begeistert.« Abends wurden sie mit Lastwagen abgeholt und irgendwohin gefahren, wohin, erfuhren sie nie. Manchmal hat sie es doch mitbekommen. »Einmal waren wir in Karlshorst. Als ich ins Publikum blinzelte, habe ich unten Marschall Shukow sitzen sehen.«
Man habe sie »fantastisch« behandelt, die Frauen nie angerührt. »Derjenige, der es gewagt hätte, wäre sofort erschossen worden.« Und es gab ein »schönes Zubrot«. Gern hätte sie erst nach dem Tanzen gegessen, doch aufgetafelt wurde vorher. Auf eine Mahlzeit verzichten, das konnte sie nicht. Niemand hätte das damals gekonnt. Doch später, als Künstler Zusatzrationen erhielten, zum Beispiel Milchpulver, gab sie es an das Tierheim Lankwitz weiter. Auch die Hunde hungerten, und Isolde Kauffmann begann, den Tierschutzverein mit aufzubauen.
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1950 bezahlten ihr Freunde, die über Panama und Chile nach Brasilien emigriert waren, die Passage nach Südamerika. Sechzehn Jahre wird sie dort leben, in Petropolis und Rio, in dieser »göttlichen Wärme«, sie, die so schnell friert, in dieser »wunderschönen Landschaft«, bei diesem »freundlichen Volk«. Sie lernt einen deutschen Juden kennen, der macht ihr einen Heiratsantrag. Sie nimmt an, weil »es unmöglich ist, dort als Frau allein zu leben«. Liebe ist es nicht, eher eine Tragödie. Sie unterrichtet in einer Ballettschule, kümmert sich um herrenlose Tiere, versammelt einen ganzen Zoo um sich, fährt samstags ins weit entfernte Tierheim – ihrem Mann gefällt das nicht. Heute sagt sie unumwunden: »Die Tiere waren mir wichtiger als er. Die Sehnsucht der deutschen Emigranten, noch einmal zurück nach Deutschland zu gehen, teilte ich nicht. Sie sind alle wieder zurückgekrochen, ich wollte nicht zurück, um nichts in der Welt. Er ist dann allein gegangen. Ich sagte, ich würde nachkommen.« Sie kam, aber erst sechs Jahre später, nachdem das brasilianische Militär 1964 die Macht an sich gerissen hatte. »Es war gefährlich geworden, es wurde gefoltert. Ich fühlte mich zurückversetzt in frühere deutsche Verhältnisse.« Nach ihrer Rückkehr zwangsläufig – Scheidung.
Die alten Verbindungen abgerissen, sie schon zu alt, um noch tanzen zu können. Fast zwanzig Jahre, bis zur Rente, arbeitet sie bei der BfA. Dazu gibt es nichts zu sagen, nur dass sie »fehl am Platze« war. Um so mehr gibt es seitdem über die Tierschützerin zu berichten. Der Tierschutzverein Lankwitz – nicht mehr ihre Heimat, »die hatten nichts gegen Tierversuche«. Da es in Berlin gegen Tierversuche noch keine organisierte Bewegung gab, orientierte sie sich an der in Wien, und als sich in München-Ottobrunn erstmals ein deutscher Verein gründete, trat sie bei. 1978 schließlich formierte sich auch in Berlin eine Gruppe; dreißig Leute trafen sich im Hinterzimmer einer Kneipe in Moabit, sie war dabei. Kleine Demonstrationen, Info-Stände – heute sagt sie: »Wir wussten noch nicht, wie wir etwas ändern können. Inzwischen wissen wir, wir können es nur über Gesetze. Deshalb suchen wir das Gespräch mit Wissenschaftlern, Politikern, allen, die mit uns reden möchten.«
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In ihrer Wilmersdorfer Wohnung ist es warm. Brigitte Jenner, die Vereinsvorsitzende, ist gekommen, um Isolde Kauffmann »ein bisschen zur Seite zu stehen«, wenn sie uns in ihre Welt einlässt. Gibt es denn Alternativen zu Tierversuchen? »Erklär' du das«, bittet Isolde, »du kannst das besser als ich, Brigitte.« Frau Jenner spricht eine klare Sprache: Tierversuche könnten nur abgeschafft werden, wenn Alternativen entwickelt würden, denn der Verbraucherschutz stünde über allem. Und ja, es gebe schon Alternativen. Man habe, was lange unvorstellbar war, eine künstliche Haut entwickelt; statt an der Schleimhaut von Tieren könne man inzwischen bestimmte Tests am Hühnerei durchführen, und statt Antikörper in der Maus zu produzieren, um Krankheiten zu diagnostizieren, sei es gelungen, monoklonale Antikörper zu entwickeln und zu vermehren, und vieles mehr. Doch die Suche nach Alternativen müsse viel stärker gefordert und gefördert werden. Zirka drei Millionen Euro stelle der Haushalt pro Jahr dafür zur Verfügung. Demgegenüber erhielten Universitäten, die neue Tierlabore bauen, Hunderte Millionen: Alles eine Frage der Lobby.
In den 80er Jahren haben die Tierversuchsgegner gegen den »Mäusebunker« in Lichterfelde mobil gemacht. Glücklos, denn in der Öffentlichkeit stoßen Mäuse und Ratten auf wenig Liebe. Sie protestierten gegen Versuche an Ratten, an denen erforscht werden sollte, wie Alkoholsucht ausgelöst wird, um Medikamente zu entwickeln. Sie haben ihren Anteil daran, dass der Satz »Tiere sind Mitgeschöpfe« heute im Tierschutzgesetz steht und der Tierschutz im Grundgesetz verankert ist: »Ach«, winkt Isolde Kauffmann ab, »das ist Lippendienst. Es gibt keine Transparenz.« Ihren bisher größten Erfolg errangen sie vergangenes Jahr: Die Charité wollte einen Hirnforscher aus Großbritannien einladen, der an Rhesusaffen experimentierte, um die Epilepsie zu ergründen. Äußerst schmerzhafte Versuche – für die Affen: Um zu sehen, wie Neuronen zusammenarbeiten, öffnet er den Affen die Schädel, pflanzt ihnen Elektroden ins Gehirn, versiegelt die Köpfe mit Zahnzement. Während des Experiments sind die Köpfe fixiert. »Die Affen bekommen nichts zu trinken, müssen sich jeden Tropfen erarbeiten«, braust Isolde Kauffmann auf. Wieder sitzt ihr der Satz von der Laus und dem Menschen auf der Zunge. Er kommt ihr nicht über die Lippen. »Brigitte ist in die Labors gegangen, um sich die Versuche anzusehen. Ich hätte das nicht ausgehalten.« Der Verein war »sehr flei- ßig auf der Straße«, sammelte gemeinsam mit dem Deutschen Tierschutzbund 65 000 Unterschiften, die dann den Politikern übergeben wurden. Auch die Genehmigungsbehörde für Tierversuche lehnte diese Experimente ab – aus ethischen Gründen. Der Hirnforscher wurde ausgeladen.
Isolde Kauffmann und Brigitte Jenner sind nur zusammen denkbar. Irgendwann, bei einer Aktion, haben beide zusammen in einem Käfig gehockt. Zwei Menschen, die sich zum Affen machen, weil sie menschlich empfinden. Brigitte Jenner hat Isolde Kauffmann für den Berliner Tierschutzpreis vorgeschlagen, der erstmals im Oktober vergeben wurde. Isolde Kauffmann erhielt den Ehrenpreis – für ihr Lebenswerk. Sie kann sich zwar nicht sicher sein, dass ihre Nachbarn verstehen werden, warum sie einst für die Russen tanzte, doch über den Preis hat sie sich gefreut. Denn Berlin ist ihre Stadt. »Wenn ich schon in Deutschland leben muss, dann will ich nur in Berlin leben. Anderswo ist man reaktionärer.«
Sie ist nicht besonders gut darin, sich Freunde zu machen. Und doch hat sie Freunde, die richtigen.
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