Geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus
Historiker erforschte das Leben des Antisemiten Gustav Stille
1976 entriss Hans-Jürgen Döscher den vom Nazi-Mob in der niedersächsischen Kleinstadt Stade durch die Straßen getriebenen und gedemütigten Pastor Johann Behrens dem Vergessen. 1987 widmete der »Spiegel« seiner Dissertation über »Das Auswärtige Amt im Dritten Reich« mehrere Seiten. Döschers nun publizierte Biografie des »frühen Propheten und intellektuellen Vorkämpfers des Antisemitismus« Gustav Stille führte sogar zu einer Straßen-Umbenennung in Hamburg.
»Die antisemitischen Schriften von Stille habe ich Mitte der 70er Jahre im Giftschrank der Schulbibliothek des Stader Athenaeums entdeckt«, erinnert sich der Wissenschaftler. Döscher war damals Studienrat an der »klösterlichen Männerzuchtsanstalt« (so der Schriftsteller Peter Schütt), wo viele illustre Persönlichkeiten ihr Abitur gebaut haben – darunter Ex-»Spiegel«-Chef Stefan Aust, der ehemalige Berliner Bürgermeister Dietrich Stobbe und der Lyriker Peter Rühmkorf. Auch Gustav Stille war Athenaer. Im Laufe der Jahre erforschte Döscher die Vita des »geistigen Wegbereiters des Nationalsozialismus« minutiös.
Es galt, eine Forschungslücke zu schließen: »Während sein literarisches Werk im 20. Jahrhundert von der Literaturgeschichtsschreibung rezipiert wurde, fanden seine späteren, prononciert antisemitischen Kampfschriften in der historischen Forschung bislang keine Beachtung«, schreibt Döscher.
Das erste politische Zeugnis hatte Stille 1867 in seinem Abituraufsatz über die Verdienste Friedrich des Großen um Deutschland abgelegt, in dem er alle katholischen, »fremdländischen«, vornehmlich französischen Einflüsse strikt ablehnte. Anschließend studierte der 1845 in Steinau (Land Hadeln) geborene Pastorensohn Medizin und schloss sich in Tübingen und Kiel den Burschenschaften »Germania« bzw. »Teutonia« an. Nach der Promotion an der Förde zum Dr. med. kehrte Stille in das Elbe-Weser-Dreieck zurück und praktizierte in Ihlienworth bis zu seinem Umzug 1903 nach Stade drei Jahrzehnte als Landarzt.
1880 wandelt sich Stille dort vom Nationalliberalen zum Antisemiten und nationalen Sozialisten, wie Döscher anhand eines in Amsterdam aufgespürten Briefwechsels mit dem Sozialisten Karl Kautsky nachweist. Neben seiner Arzttätigkeit findet Stille Zeit, seiner zweiten Leidenschaft zu frönen: dem Schreiben. In der Region machte er sich mit niederdeutscher Erbauungsliteratur einen Namen. In Intellektuellenkreisen reüssierte er mit antisemitischen Kampfschriften. In seinem in acht Auflagen verlegten Hauptwerk »Kampf gegen das Judenthum« wettert er unter der Verwendung von Schlagwörtern wie »Ausbeuter und Wucherer«, »Rassenschande«, »Blutsauger« oder »nomadischer Parasit« gegen die vermeintliche »Judenherrschaft«.
Sein Ziel formulierte Stille 1912 unmissverständlich: »Kampf gegen die Judenmacht bis zu ihrer völligen Vernichtung«. Es helfe nur die »offene, blutige Revolution«. Zu Stilles politischem Programm gehören Forderungen nach Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft sowie des aktiven und passiven Wahlrechts für Juden, die »Reinigung« der Presse und der Bühnen von »jüdischer Zersetzung«, staatliche Kontrolle jüdischer Geschäfte und Vermögen sowie das Verbot des Grundbesitzerwerbs. Stille trat mit dem politischen Eifer des Asketen auf, denn als Anhänger der gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnenden Reform-Bewegung, deren völkisch-darwinistischem Flügel er angehörte, machte er auch gegen Alkohol, Tabak- und Fleischkonsum mobil.
Für Döscher bündeln sich in Stilles Schriften »die antisemitisch-rassenideologischen, völkischen und nationalistischen Strömungen im Deutschen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts«. Stille forderte nicht nur die Entfernung der Juden aus dem öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben, sondern auch die »Vernichtung« der angeblichen »Judenmacht«. Auch mit seinen Vorstellungen von der Erweiterung des deutschen »Lebensraumes« im Osten zur Ansiedlung der »überschüssigen« Bevölkerung ging er einen Schritt weiter als die zeitgenössischen Antisemiten. Stille habe, folgert Döscher, die »zentralen Ideologeme des Nationalsozialismus« vorweggenommen. »Semantische Analysen und textkritische Vergleiche mit Hitlers frühen Aufzeichnungen und Reden lassen Stille als einen geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus erscheinen«, urteilt der Forscher über Stilles Wirkmächtigkeit.
Noch 1949 (!) war in Hamburg eine Straße »nach dem Arzt und niederdeutschen Schriftsteller« benannt worden. Erst 2006 wurde der Makel beseitigt – dank Döschers wissenschaftlicher Wühlarbeit.
Hans-Jürgen Döscher: »Kampf gegen das Judenthum« Gustav Stille (1845-1920), 176 Seiten, Metropol Verlag 2008, 19 Euro
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