Welten aus Worten

Mehr als ein Reisetagebuch: »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens« von Franz Fühmann

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 11 Min.

Mit »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens« von 1973 hat Franz Fühmann seinen eigentlichen Eintritt in die Literatur angesetzt. Das klingt buchhalterisch, aber das ist dieses Dokument schwerster Krise gerade nicht, sondern der Versuch, anders zu leben und anders zu schreiben. Ähnlich wie bei Hesse. Wenn es allzu schwer geht, dann muss man verreisen, unterwegs dem nachzulauschen versuchen, wer man eigentlich ist – sein könnte oder sollte. Sich erinnern, um vergessen zu können.

Dieses schmale Buch ist nicht weniger als eine Generalabrechnung mit seinem bisherigen Leben und Schreiben, ein Zusammenzählen dessen, was an Substanz für Künftiges bleibt. Meditationen eines »abgebrannten Literaten«, so wie sich Hesse fühlte, als er – mit nichts – ins Tessin kam, als schon nicht mehr junger Mensch. Was für Hesse das Dokument seines Unterwegs in »Wanderung« ist (Abschied von der Bürgerwelt, als Gehen über die Alpen gen Süden), das sind für Fühmann seine »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens«. Abschied von lauter falschen Selbstbildern und Pflichten, die fortan nicht mehr zu seinen Aufgaben als Autor zählen werden. Ein Buch nur für sich selbst!

Das immer wieder auftauchende Leitmotiv dieses Budapester Reisetagebuchs, das zu einer Reise zu sich selbst, seinen schöpferischen Wurzeln wird, zum Medium seines seelischen Gesundens auch, lautet: »Übernehmen Sie ruhig die Aufgaben einer Teilfunktion, die aber versorgen Sie gewissenhaft.« Ein Satz von Gottfried Benn, aber der Name kommt im Buch nirgends vor, das ging wohl noch nicht in der DDR Anfang der 70er Jahre (vielleicht ein Fall von Selbstzensur, denn Konrad Reich versichert, Benns Name habe nie im Manus-kript gestanden).

Ein – unerhörtes, ein radikales – Hinwenden zur Monomanie des Schreibens. Die Frucht von »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens« ist dann jenes ästhetische Bekenntnis von 1979 im Gespräch mit Jacqueline Benker-Grenz: Wenn ich schreibe, dann interessiert mich kein Publikum, dann interessiert mich kein möglicher Zensor, dann interessiert mich keine ominöse Nachwelt, es interessiert mich nichts Anderes als das, was ich mache, fertigzumachen.

Allerdings, es ist auch ein Buch der vielen kleinen Fluchten: vor dem Selbstekel seines Alkoholismus, der ihn 1968 ins letzte Stadium des Deliriums gebracht hatte. Das mögliche Ende vor Augen gelingt ihm der Ausbruch aus der Sucht, aber der Druck einer »inneren Emigration« – nicht er selbst nennt das so, seine Parteifreunde in der NDPD hängen ihm dieses negativ gemeinte Etikett an – der bleibt.

»Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens« wird zum Versuch, die Lust am Schreiben, am Leben überhaupt, wiederzugewinnen. Den Nebel loszuwerden, der über allem liegt, die innere Lähmung zu überwinden. Fühmann, dessen Charakter zwischen die extremen Pole Askese (mit Hang zum Fanatischen) und Rausch (manische Aufbrüche ins Leere) eingespannt zu sein scheint, befindet sich innerlich immer wie auf der Streckbank – kurz vorm Zerreißen. Er flüchtet sich in eine furchtbare Arbeitsdisziplin, mit der er seine oft barocken Unternehmungen (das »Bergwerk«!) in eine Form zu bringen versucht, so als hätte er zehn Leben.

Die »Zweiundzwanzig Tage« sind anders. Nicht Askese oder Rausch, sondern Einübung in etwas, woran es ihm am meisten mangelt: Lebenskunst. Die bedeutet, sich aufs Machbare (das Aussprechbare) zu beschränken und das Unaussprechbare zu zeigen – ganz im Wittgensteinschen Sinne. Sie bedeutet auch: unter Menschen sein (für Fühmann ein Graus), reden (sogar über Literatur), gemeinsam essen, Besuche machen – alles Dinge, die er sonst meidet, um nicht zu sagen: hasst. Hier fühlt er sich als Flaneur in fremdem Land, der schauen, nachdenken, auch genießen darf – ohne sich sofort für alles verantwortlich zu fühlen.

Budapest wird zum Synonym für jene Distanz, die Fühmann verloren zu gehen droht; die Distanz zu sich selbst, aber auch zu den fatalen Entwicklungen in der DDR, zum Literaturbetrieb, der ihn anekelt, der Ideologie, die ihm die Luft nimmt. Hier findet er sie wieder, die freie Luft zum Atmen. Das macht den Charme und die Bedeutsamkeit dieses kleinen Büchleins in seiner beinahe aphoristischen Form aus: der Mut zum Weglassen, die Freiheit fortzugehen, dahin, wo man leichter lebt.

Ungarn ist vor allem eins: das Gegenteil zu Preußen, wo er sich nie heimisch fühlt. In Budapest weiß er sich auf Besuch, aber doch nicht auf ungute Weise fremd, denn er spürt hier noch den Hauch der k.u.k. Monarchie zu der (vor seiner Geburt) auch das Riesengebirge zählte.

Immer wieder – vier, fünf Mal – reist Fühmann nach Budapest, um die »Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens« schreiben zu können. Unter die nicht zu zahlreichen Passagen, in denen Budapest tatsächlich vorkommt (aber diese sind prägnant!), mischt sich viel eigene Biografie. Schreiben als Exerzitium, aber gemildert durch österreichisch-ungarische Lebensart. Eine lebensrettende Katharsis, eben weil sie nach dem menschlichen Maß sucht.

In der Fremde ist es auch nicht viel anders als zu Hause. Eine außerordentliche Erfahrung, die der präzisen Wahrnehmung bedarf – gerade auch des nicht so Vielen wegen, was doch anders ist, das man bemerken muss. Reisen trainiert Sehen als Fähigkeit, Bekanntes von Unbekanntem zu unterscheiden, also Neues so wahrzunehmen, dass es auch auf das lang Gewusste zurückwirkt. Genau das passiert in »Zweiundzwanzig Tage« – ein Buch für freie Geister (so wird es auch von den Lesern verstanden), das anderen nichts beweisen, nichts erklären will. Nur für sich selbst gilt es auf diesen Seiten einiges zu klären. Und die Motive des Kommenden, sie sind hier alle schon angelegt.

Ein Brief an Hinstorffs Cheflektor Kurt Batt vom 12. Juni 1972 zeigt, wie sehr sich Fühmanns Selbstverständnis als Autor gewandelt hat:

Lieber Herr Dr. Batt,

ich lese gerade die Rußlandreise von Knut Hamsun, und da ist mir etwas aufgegangen, und ich glaube, es ist das, was Sie und Konrad Reich meinten. Er schreibt seitenlang eigentlich nichts anderes, als daß Rußland zwischen Petersburg und dem Kaukasus wie Norwegen ist, halt nur flach, aber sonst durchaus heimisch, und bringt keine Bilder als Belege, keine besonderen Worte, gar nichts Überwältigendes, eigentlich entsetzlich bieder, wenn Sie wollen sogar stupid, dies immer: ›wie bei uns‹ - ›auch nicht anders als‹, sicherlich auch anzuzweifeln (ich stell mir Norwegen nun doch etwas anders vor), aber es hat einen ungeheuren Vorzug: Man kann sichs vorstellen. Jetzt hab ich was kapiert.

Ein Labyrinth! Doch eines, durch das man mit allen Sinnen wandeln kann, wie jene ungarischen Saunen, die Fühmann fast so faszinieren wie später die Bergwerke, in die er einfährt. Etwas vom Aroma des Fegefeuers (kaum gelöscht vom Wasser, darum voll von beängstigend dickem Dampf) und jener Unterwelt, die Orpheus verschluckte, herrscht hier. Fühmann, hier noch einen schweren Leib mit sich durch die Katakomben des Badehauses schleppend, ist hingerissen: Der Nebel, das wird für mich immer mehr mein eigenes Ich, meine eigene Vergangenheit.

Ein Traumstück ist dieser schmale Band zweifellos auch, der in seiner Verknappung, dem Mut zum Weglassen (manche Lücke schreit lauter als jedes noch so kräftige Wort!) zum Avantgardistischsten zählt, was die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts in ihrem letzten Drittel hervorgebracht hat. Ein Stück moderner Mystik, in der die Grenzen ständig aufgehoben werden – zwischen Sehen und Denken, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Gestern und Heute, zwischen Erzählung und Philosophem, auch zwischen Ich und Du. Eine überaus nüchterne Ekstase jedoch, ein Denken, das sich selbst zusieht. Wobei? Beim Überschreiten, bei dem, was Wandlung ausmacht: Dies Dazwischen zwischen Donau und Himmel ist unbeschreibbar, wie einer dieser Übergänge ins Nichts, die Mallarmé in Worte zu fassen versucht hat ... Könnte es die Sprache sagen, nur dies, diesen Übergang, aber ihn genau? Vielleicht; eine Mühe von Tagen, und was wäre gewonnen? Viel: Ein Einblick in das, was Sprache kann.

Dieses Schreiben ist autobiografisch – zugleich immer auch ein Nachdenken über das, was Autobiografie zu leisten vermag und was nicht. Ein Dokument der Beschädigung durch das Leben und der Selbstheilung durch die Besinnung auf das Eigentliche – das Ästhetische. Unter Vorbehalt immer, das bleibt die Drohung im Hintergrund. Die Mittel – die Wörter –, taugen sie denn dazu, Inneres mit Äußerem zu verbinden, wenn sie nur Mittel sind? Nein, sie selbst sind der allererste Zweck des Schreibens. Die Worte sind das, worum es im literarischen Text geht. Die Worte wiederum bergen eine Welt, darum leben sie auch, wenn sie der Dichter dazu erweckt. Es bleibt ein Labyrinth. Der Autor in der Krise scheint darin gefangen – und unternimmt dann doch den einzig möglichen Befreiungsversuch: über das Labyrinth zu schreiben, das Labyrinth selbst zu Wort kommen zu lassen.

Die gelingende Form, die faszinierende Gestalt des Ästhetischen ist nur das, was Dennoch dasteht – trotz Dreck, Lüge, Elend, Verrat, Schmerz und Tod; mehr noch, nicht nur trotz, sondern aus all diesem selbst ist das gemacht, was sich zuletzt als schöner Widerschein erhebt, als hätte es dies alles für immer überwunden.

Aus meiner Haut werde ich nicht mehr können und konnte ich nie. Aber in ihr steckend: das Möglichste daraus machen, den Mut zu allen ihren Möglichkeiten haben, und das wäre bei meinem böhmischen Erbe der Mut zum Schießenlassen der Phantasie, der Mut zum Barocken, der Mut zum Traum und Paradoxen

Aber ist jene Teilfunktion, die ich versorgen muß, dem allen nicht entgegengesetzt, kommt es da nicht gerade auf Präzision der Übereinstimmung mit der Realität, auf Sachlichkeit, Faktentreue, plausible Wahrhaftigkeit an

Doch aus seiner Haut heraus fahren können

So wächst sich aus, was nur ein Büchlein Reisenotizen werden sollte – Wollen will ich nur Ruhe, Dösen, Faulsein, Nichtstun, Herumschlendern, Antiquariate, eben Urlaub; ich werd's zwar auch hier nicht länger als drei Tage aushalten können, aber das wär ja auch schon etwas

Am Ende sind dabei mehr Fragen gestellt, als er zu beantworten je unternehmen wird. Aber dass es darauf gar nicht ankommt, erfährt er auch. Die eigene Biografie, die oft behandelte Schuldfrage, ganz persönlich noch einmal gestellt – sehr zugespitzt und gerade so aus dem bloß privaten Herkommen wie aus didaktischer Allgemeinheit befreit: Wozu ist der Mensch fähig, wozu wäre er selbst fähig gewesen als junger hitlergläubiger SA-Mann? Was ist es, das uns gefangen nimmt, das, was uns fasziniert – und warum mündet der eine Mythos in Ideologie und Barbarei und der andere in eine erzählte Geschichte, in ein Bild des Schreckens, das uns erst eine Vorstellung vom Ungeheuerlichen gibt?

Das sind die Fragen, die bleiben und Fühmann wird sie weiterdenken – über den Unterschied der Worte zu den Wörtern, über Mythos und Märchen, über das, was Vernunft vor falschen Selbstillusionierungen bewahrt und den Fortschritt davor, am Ende den Massenmord technisch zu optimieren. Dies Buch zeigt auf den Ursprung, der zugleich Quelle für Wachstum (Wandel auch) und Abgrund der Zerstörung ist. Es beschränkt sich auf die Spuren im Alltag, auf Keime, die angelegt sind. Wachstum und Vernichtung haben dieselbe Wurzel, alles ist eine Frage der Präzision, sogar der Traum, vor allem die Wahl der Worte, die ihn auszudrücken versuchen bis zu jener Grenze, hinter der es vergeblich wird. Auch dieses Scheitern bedarf der Form.

Wieder: »Übernehmen Sie ruhig die Aufgabe einer Teilfunktion, die aber versorgen Sie genau ...«

Die Literatur als Totemgesellschaft: Der Schreibende in sein Thema verschmolzen wie dort der Einzelne in seinen Clan

Das sind Töne, wie sie in der DDR-Literatur bislang nicht vorkamen – und die auch bereits über die Grenzen dessen hinausweisen, was in diesem Land möglich ist. Die artistische Lust an der Qual des Unaufklärbaren gibt dem Schreiben einen Sinn – diese Selbstermächtigung zur Autorschaft sprengt das in seinem Land Mögliche, weist so (unbewusst, ungewollt) bereits auf dessen Untergang hin.

Eine Traumwelt? Ja gewiss, aber dieser Traum sagt den Albtraum mit. – Für Fühmann wird die Befreiung vom inneren Zwang zum Optimismus, der Mut zum Negativen als einer – möglicherweise nicht nur vorübergehenden - Form der Wahrheit zum rettenden Wiederanschließen seines Schreibens an seine innere Erfahrungswelt. So erfährt Kurt Batt am 15. Juni 1972: Mir ist nun einiges klarer geworden, mir ist klargeworden, was ich versäumt habe, und die Frage ist, ob ich noch einmal die Kraft haben werde, zu tun, was ich weiß, denn: mit 50 noch einmal anfangen??

»Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns« heißt eine groß angelegte Biografie von Gunnar Decker, die im März in der Edition Konrad Reich bei Hinstorff erscheint und aus der wir hier vorab einen Auszug bringen. »Mit Fühmanns Leben, seiner tiefen Verstrickung in die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts«, so Gunnar Decker, »öffnet sich ein Panorama, das die Biografie über ein Geschichtenbuch hinaus zum Geschichtsbuch macht.«

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