Die Unfähigkeit zu trauern

  • Rainer Braun
  • Lesedauer: 3 Min.
Unser Autor arbeitet als freier Fernsehkritiker und Medienpublizist in Berlin.
Unser Autor arbeitet als freier Fernsehkritiker und Medienpublizist in Berlin.

Auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung legten Margarethe und Alexander Mitscherlich einen schmalen Band vor, der für Furore sorgte. »Die Unfähigkeit zu trauern« war ihre Auseinandersetzung mit dem Erbe der NS-Zeit in der Adenauer-Ära überschrieben, die gleichwohl auch über diese Zeit hinauswies. Denn die Psychoanalytiker loteten zugleich die Verantwortlichkeit des Einzelnen wie der Masse für (politische) Verbrechen aus.

Gut vierzig Jahre nach Erscheinen möchte man die Lektüre dieses Buches – als Einladung zur Besinnung und (Selbst)Reflektion – auch einigen Redakteuren öffentlich-rechtlicher Fernsehsender ans Herz legen. Denn was ARD und ZDF in den letzten Tagen zum Amoklauf in Winnenden, dem Prozess von St. Pölten oder der Rückkehr von Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) nach Thüringen sendeten, speiste sich nur allzu oft aus jener Art Besinnungslosigkeit, die allein auf Sensationsgier und Emotionalität setzt und die leidvollen Erfahrungen der Menschen auf Kosten schneller Bilder und Töne außer Acht lässt.

Es war kein Einzelfall, als René Kindermann am vergangenen Donnerstag fröhlich und nassforsch im ARD-Boulevardmagazin »Brisant« (MDR) verkündete, dass nun endlich das Urteil da sei, »auf das die ganze Welt gewartet hatte«. Zuvor hatte sich sein ZDF-Kollege in St. Pölten im Ton vergriffen, als er in »heute« eine psychiatrische Anstalt als »Klapsmühle« bezeichnete, wofür er sich nachher entschuldigte.

In unangenehmer Erinnerung bleiben auch die vielen Reporter von SWR und ZDF, die in Winnenden gierig und bar jeder Vernunft nach O-Tönen von Betroffenen suchten, die mit dem Leben gerade noch einmal davongekommen waren. Das NDR-Medienmagazin »ZAPP« beschrieb am letzten Mittwoch eindringlich, wie es in einer Stadt zugeht, der das Recht auf Trauern und Besinnung streitig gemacht wird, weil die rigorose Jagd nach Quote und hohen Emotionen Anflüge von Menschlichkeit und Demut oder auch nur das stille Innehalten angesichts des Leids offensichtlich nicht zulassen. Im niederösterreichischen St. Pölten haben findige PR-Strategen diese fehlende Haltung konsequent neoliberal zu Ende gedacht und flugs für die Medienmeute touristische Stadtführungen während der Dauer des Fritzl-Prozesses angeboten.

Das Fehlen journalistischer Haltung charakterisierte auch den Umgang bei der Rekonvaleszenz von Dieter Althaus. Wo waren die Beiträge und leisen Töne, die sich kritisch mit der Verrohung der politischen Sitten auseinandersetzen? Die doch evident werden, wenn eine christdemokratische Partei einen offenbar gesundheitlich angeschlagenen Kandidaten, der zudem Schuld auf sich lud, gnadenlos in eine Landtagswahl schickt, bei dem der Gesundheitszustand von Althaus eher ein Thema ist als Politprogramme?

Die grenzenlose Gier nach Bildern und Tönen, die den beschleunigten Medienbetrieb antreibt, hat längst das öffentlich-rechtliche Fernsehen erreicht. Dort fand auch keiner etwas dabei, am Tag des Amoklaufs von Winnenden zunächst ungerührt Wintersport zu übertragen und nach einem Kurzbericht über die aktuellen Ereignisse erneut einen Trailer für Biathlon zu zeigen: Zu sehen war – in diesem Kontext so makaber wie geschmacklos – eine Zielscheibe, auf die ein Wintersportler zielt.

Nicht von ungefähr blieb es dem konservativen Doyen der deutschen Auslandskorrespondenten, dem 85jährigen Peter Scholl-Latour vorbehalten, zu hinterfragen, warum ARD und ZDF die Tragödie von Winnenden nicht nur nüchtern vermeldeten. Zu befürchten ist allerdings, dass sein Vorschlag bei »Maischberger« am letzten Dienstag genauso ungehört verhallt wie alle Mahnungen zuvor – die Unfähigkeit zu Trauern ist geblieben, wo sich auch gebührenfinanziertes Fernsehen den Emotionen und Betroffenheitsritualen verschreibt.

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