Geschichte in der ersten Reihe miterlebt

Zum Tode von Lotte Ulbricht, die in der Nacht zum Mittwoch verstorben ist

  • Siegfried Prokop
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.
Weißt Du, wenn man es genau nimmt, waren wir doch alle Stalinisten. Walter und mir wäre im Traum nicht eingefallen, ein ganzes Haus zu beanspruchen. Uns hätte eine normale Mietwohnung gereicht. Aber die "Freunde" zwangen uns dazu, in ein Haus zu ziehen.« Diese Worte sind mir noch in Erinnerung aus dem einzigen Gespräch, das ich Anfang der 90er Jahre mit Lotte Ulbricht hatte. Sie gab keine Interviews, und von »Westjournalisten« wollte sie schon gar nichts wissen. Bei einem Mitarbeiter eines Nachrichtenmagazins machte sie einmal eine Ausnahme. Für sie war nicht von Belang, für welches Organ er arbeitete. Wahrscheinlich mochte sie seine unaufdringliche Art. Sie gab zwar auch ihm kein Interview, aber sie sprach mit ihm. Er durfte in ihr Haus. Dann sah sie am Abend die »Tagesschau«. Sie erregte sich dabei so, dass sie diesen Journalisten sofort anrief. Sie beschimpfte ihn ob der Lügen, die das Fernsehen wieder über die DDR verbreitet hatte. Als der Journalist zur nächsten Verabredung zum Majakowski-Ring nach Pankow kam, blieb die Tür verschlossen. Durch ein offen stehendes Fenster ließ sie verlauten, dass sie sich nicht erinnern könne, eine Bekanntschaft geschlossen zu haben. Es ist schade, dass Lotte Ulbricht ihre Erinnerungen der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung stellte; denn sie hat die Geschichte der sozialistischen Bewegung und die Geschichte der DDR gewissermaßen in der ersten Reihe miterlebt. Sie hätte auf einige Fragen, über die die Forschung heute noch herumrätselt, eine schlüssige Antwort geben können. 1903 in einer Arbeiterfamilie in Rixdorf bei Berlin geboren - der Vater war Hilfsarbeiter, die Mutter Heimarbeiterin - fand Charlotte Kühn schon in jungen Jahren Kontakt zur Arbeiterbewegung. Nach dem Volks- und Mittelschulbesuch absolvierte sie eine Ausbildung zur Kontoristin. 1919 trat sie der Freien Sozialistischen Jugend bei, und wurde 1921 Mitglied der KPD. Sie arbeitete als Stenotypistin im Apparat des ZK der KPD in Berlin und in Essen. 1922 und 1923 arbeitete sie bei der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) in Moskau. Danach wurde sie für drei Jahre Mitglied des ZK der KPD und der KPD-Reichstagsfraktion. 1926/27 verdiente sie ihr Geld als Archivarin bei der KJI in Moskau. Bis 1931 war sie wieder in Berlin als Sekretärin in der Handelsvertretung der UdSSR tätig. 1931 emigrierte Lotte mit ihrem Mann Erich Wendt, der 1963 durch die Verhandlungen über das Passierscheinabkommen bekannt werden sollte, nach Moskau. Bis 1935 war sie Hauptreferentin bei der Kommunistischen Internationale tätig. In diesen Jahren absolvierte sie ein Fern- und ein Abendstudium an der Akademie für Marxismus-Leninismus und an der Kommunistischen Universität in Moskau. 1935 erhielt sie den Auftrag, Walter Ulbricht in seiner Tätigkeit in der Auslandsvertretung bzw. der Operativen Leitung der KPD in Paris und Prag als Sekretärin und Dolmetscherin zu unterstützen. Für beide begann eine glückliche Zeit. Der, bezogen auf das Private, eher wortkarge Ulbricht teilte in einem Schreiben vom 4. April 1935 an Wilhelm Pieck mit, dass er »in der persönlichen Frage letzten Endes doch Glück« gehabt habe. Zielsicher erklärte er, dass er die Angelegenheiten mit seiner jetzigen Frau, der Genossin Lotte Kühn, zu regeln beabsichtige und dabei Piecks Unterstützung brauche. Nach der Leipzigerin Martha Schmelinsky (bis 1925) und der französischen Publizistin Rosa Michel (bis 1934) wurde Lotto Kühn die dritte Lebensgefährtin Walter Ulbrichts. Bis zur Heirat vergingen allerdings noch eineinhalb Jahrzehnte, da sich beide erst noch von ihren Ehepartnern scheiden lassen mussten. Lotte, die zehn Jahre jünger war als Walter, blieb bis zum Tod im Jahre 1973 dessen engste und wichtigste Bezugsperson. Die glückliche Verbindung mit Walter Ulbricht verhalf Lotte über einige Schicksalsschläge hinweg, die sie während der Emigration trafen. Ihr Mann Erich Wendt geriet 1936 in den Strudel der stalinistischen Säuberungen. Er wurde verhaftet, aus der KPD ausgeschlossen und schließlich 1941 nach Sibirien deportiert. Obwohl sie mit ihrem Mann nicht mehr zusammenlebte, musste auch sie sich einem Verfahren der Kontrollkommission unterwerfen. Ihr zwei Jahre älterer Bruder Bruno Kühn wurde 1941 als Fallschirmspringer hinter der deutschen Frontlinie abgesetzt, wo er bald in die Fänge der Gestapo geriet und hingerichtet wurde. In der unmittelbaren Nachkriegszeit arbeitete Lotte zunächst als Abteilungsleiterin im ZK der KPD und dann als Hauptreferentin in der Abteilung »Werbung, Presse, Rundfunk« im ZK der SED. Da die Partnerschaft kinderlos blieb, adoptierten im Jahre 1946 Lotte und Walter Ulbricht aus einem ukrainischen Waisenhaus die am 6. Mai 1944 geborene Beate. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen wurde Beate Ende der 80er Jahre alkoholabhängig. 1991 wurde die in Berlin-Lichtenberg lebende Sozialhilfeempfängerin tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Lotte erfuhr davon aus der Zeitung. Von 1947 bis 1953 war sie als persönliche Mitarbeiterin Ulbrichts tätig, was in der Juni-Krise 1953 zu parteiinterner Kritik führte. Sie entschied sich deshalb, diese Tätigkeit zu beenden. Auf die Fortsetzung einer eigenen politischen Laufbahn verzichtete sie. Lotte begann 1954 ein Studium am Institut für Gesellschaftswissenschaften, das sie 1959 als Diplomgesellschaftswissenschaftlerin abschloss. Von diesem Studium wurde berichtet, dass sie das Protokoll nicht so ernst nahm. So konnte ein Historiker, der wie Lotte in Pankow wohnte, nach Versammlungen regelmäßig in ihren Wagen einsteigen und mitfahren. In den Versammlungen hielt sie sich zurück. Lediglich einmal ergriff sie das Wort. Die Genossen stritten wieder darum, ob die Funktion des stellvertretenden Gruppenorganisators statutengemäß sei oder nicht. Lotte meldete sich. Sie sagte, dass sie ihren Mann gefragt habe, und dieser habe gesagt, die Funktion sei statutengemäß. Daraufhin meldete sich jener Historiker, der auch ansonsten ein Spaßvogel war. Er sagte, er habe seine Frau gefragt, und die habe gesagt, die Funktion sei nicht statutengemäß. Das Gelächter soll unbeschreiblich gewesen sein. Lotte nahm den Scherz nicht übel. Jener Historiker konnte nach der Veranstaltung wieder mit nach Pankow fahren. Wenn es nach Lotte gegangen wäre, hätte sie auch noch am Institut promoviert. Aber die Professoren winkten ab. Selbst bei der Frau des Ersten Sekretärs waren sie nicht bereit, ihre Maßstäbe zu lockern. Walter hatte nichts dagegen, dass seine Frau nicht auch noch Doktor wurde. Von 1959 bis 1973 arbeitete Lotte Ulbricht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Marxismus-Leninismus und war Mitlied der Frauenkommission des Politbüros. Sie bearbeitete Texte ihres Mannes und unterstützte die Erarbeitung der achtbändigen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Zu Frauenfragen publizierte sie mehrere Artikel. Sie setzte sich vehement für die Gleichberechtigung ein, als aber die Debatte in der Zeitung »Für Dich« Anfang der 60er Jahre die Forderung nach Abschaffung des Paragraphen 218 aufgriff, stellte sie sich quer. In solchen Fragen richtete sie sich nach den eher konservativen Maßstäben der sowjetischen Familienpolitik. 1968 erschienen ihre »Reden und Aufsätze« im Dietz Verlag. Was sie darin zur Frauenemanzipation forderte, ist heute wieder aktuell. Als Nikita S. Chrustschow auf die Idee kam, bei staatspolitischen Akten gemeinsam mit seiner Gattin Nina aufzutreten, war dies für Walter Ulbricht ein Signal, auch so zu verfahren. So avancierte Lotte Ulbricht im Verlaufe der 60er Jahre zur »First Lady« der DDR. Durch ihre natürliche und unkomplizierte Art erwarb sie sich nicht wenige Sympathien bei Bürgern der DDR. Geschätzt wurde an Lotte Ulbricht, was man heute preußische Tugenden nennen würde: sie war pünktlich, ordentlich und unbestechlich. Sie stand zur kommunistischen Utopie, bekannte sich zum antifaschistischen Kampf und fühlte sich der Sowjetunion in bedingungsloser Treue verbunden. Nach dem Sturz Ulbrichts im Jahre 1971 begann für sie eine bittere Zeit. Erich Honecker begnügte sich nicht damit, Walter Ulbricht rüde vom Sockel zu stoßen. Auch Lotte wurde durch Nichtbeachtung gestraft. Bei dem schon erwähnten Gespräch fragte ich sie danach, ob sie sich während der Honecker-Ära tatsächlich in der Schweiz aufgehalten hätte. Sie verneinte entschieden. Solche Gerüchte seien vom Politbüro ausgestreut worden, um sie politisch zu diskreditieren. Lotte mochte Honecker auch deshalb nicht, weil er das politische Kapital Walter Ulbrichts verspielt hatte. Die Wende brachte ihr nicht die sehnsüchtig erhoffte Rehabilitierung und Ulbricht-Renaissance. Sie dachte über ihre Vergangenheit kritisch nach und entschied sich für die Mitgliedschaft in der PDS. Sie liebte es, über den Pankower Markt zu schlendern. Wenn wildfremde Bürger auf sie zukamen und sie beinahe zär...

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