2011: Chance für wen?
Tagung untersuchte Zusammenwirken von Migration und Arbeit
Die Gewerkschaften warnen vor einem neuen Einfallstor für Niedriglöhne, wenn 2011 die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt. Beim 6. Workshop zur Europäischen Tarifpolitik wurde eine Studie des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg vorgestellt, die dokumentiert, wie auch unter den gegebenen Verhältnissen Beschäftigte mit Migrationshintergrund in Deutschland weitaus stärker von der Ausweitung des Niedriglohnsektors betroffen sind.
Die IAQ-Forscherin Claudia Weinkopf verdeutlichte dies anhand von Zahlen. Während 1996 noch etwa 14 Prozent der Beschäftigten ohne und 19 Prozent derer mit Migrationshintergrund zu Niedriglöhnen gearbeitet hätten, seien es 2007 bereits 20,7 bzw. 30 Prozent gewesen. Ergänzt um den Aspekt Geschlecht werden die Unterschiede noch komplexer und drastischer: 12,2 Prozent der Männer ohne und 17,7 Prozent derer mit Migrationshintergrund arbeiten zu Niedriglöhnen. Bei den Frauen sind es 26,7 Prozent bzw. 43,6 Prozent! Noch fehlen verlässliche Forschungsergebnisse darüber, warum der Anstieg bei den Niedriglöhnern mit Migrationshintergrund so ungleich höher ausfiel. Claudia Weinkopf vermutet, dass eine zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, aber auch ein Rückgang von relativ gut bezahlter gewerblicher Tätigkeit bei Männern Hauptgründe sein könnten.
Die Wissenschaftlerin verweist zudem auf die Verschiebung von Beschäftigung aus dem gewerblichen in den Dienstleistungssektor. Während im Jahr 1975 noch etwa 75 Prozent der Beschäftigten mit Migrationshintergrund im produzierenden Gewerbe gearbeitet hätten, seien es im Jahr 2007 noch 43,9 Prozent gewesen. Genau andersherum sieht es im Dienstleistungssektor aus. Dort arbeiteten 1975 noch 24,1 Prozent der Beschäftigten mit Migrationshintergrund. 2007 waren es stattliche 54,6 Prozent.
Ver.di-BundesvorstandsmitgliedSonja Marko argumentierte, dass Niedriglöhne oft auch mit Privatisierungen im öffentlichen Sektor einhergingen. In einigen dieser Branchen, etwa in der Pflege oder der Abfallwirtschaft, aber auch bei den Busfahrern, sei der Anteil von Beschäftigten mit Migrationshintergrund sehr hoch. Im Pflegebereich gebe es illegale Beschäftigung oft »in den Grauzonen von Privatheit«, bestätigte Margret Steffen aus dem ver.di-Bereich Gesundheitspolitik. »An die Beschäftigten in den kleineren Betrieben und in der illegalen Pflege kommen wir nicht ran«, sagte sie.
Dort aber kann ein Kreislauf entstehen: Durch das »Teile und herrsche«-Prinzip in legale und illegale Beschäftigung, das den Arbeitgebern in die Hände spielt, steigt der Druck auf Löhne. Das Prinzip funktioniert auch in der Hotelreinigung. Dort zahlten die Arbeitgeber zwar nach Tarif, überzogen aber die Arbeitszeit so weit, dass unterm Strich nur ein Niedrigstlohn bleibt, berichtete Birgit Pitsch von der Hauptverwaltung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten. Möglich macht's die Akkordarbeit.
Sonja Marko verlangte nach »politischen Rahmenbedingungen«, die um die Arbeitnehmerfreizügigkeit geschaffen werden müssten, um die Ausbeutung von Beschäftigten zu verhindern. Mindestlöhne – sowohl branchenspezifische wie auch der gesetzliche – bleiben dabei eine Hauptforderung der Gewerkschaften. Das Prinzip »Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit am gleichen Ort« müsse eingehalten werden, so die Gewerkschafterin.
Lexikon
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 39 des EG-Vertrags soll Beschäftigten ermöglichen, im gesamten Gemeinschaftsgebiet arbeiten zu können. Sie gewährt das Recht auf Arbeitsaufnahme und in dem Zusammenhang ein Einreise- und Aufenthaltsrecht. Mit Hilfe einer Übergangsregelung beschränkten Deutschland und andere EU-Länder die Öffnung ihres Arbeitsmarktes für die neuen EU-Mitgliedsstaaten Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Lettland, Litauen und Estland. Die Regelung läuft 2011 aus. IB
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.