»Iraks Ärzte sind stärker als wir«
Im Krankenhaus des Roten Halbmonds in der jordanischen Hauptstadt Amman werden irakische Opfer von Anschlägen betreut, die in Bagdad oft nicht hinreichend versorgt werden können
»Sie war an diesem Morgen nur ins Ministerium gekommen, um sich in den Mutterschutzurlaub zu verabschieden, sie war im achten Monat schwanger und nun ist sie tot.« Suha al-Turaihi berichtet am Telefon von ihren Erlebnissen im Außenministerium in Bagdad wenige Tage nach den Anschlägen am 19. August. »39 Leute starben, von meinen Freunden sind fast alle verletzt, sie tragen Verbände, sind x-mal genäht worden.« Bitterkeit und Verzweiflung sprechen aus ihren Worten. Mehr als 1000 Menschen wurden bei den Explosionen vor dem Außen- und dem Finanzministerium in Bagdad Mitte August verletzt. Die 67-jährige frühere irakische Diplomatin ist erschöpft. Seit mehr als sechs Jahren steckt ihre Heimat im blutigen Chaos. Zur Unsicherheit kommen massive Teuerung und mangelhafte Versorgung mit Strom und Wasser hinzu, es fehlt einfach an allem, was man zum Leben braucht. »Wir waren einmal die Nummer eins in Sachen Gesundheitsversorgung hier in der Region«, erinnert sich die resolute Frau. »Jetzt können unsere Ärzte nicht einmal die Verletzten ordentlich versorgen.«
Nach Anschlägen wie denen vom 19. August sind die Krankenhäuser von Bagdad überfordert. Verletzte werden in so kurzer Folge eingeliefert, dass Ärzte und Pfleger nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Es fehlt an Blutkonserven und Betäubungsmitteln, an Verbandsmaterial und an Betten, die Verletzten warten auf dem Flur und werden nicht selten von Personen betreut, die nicht dafür ausgebildet sind.
Der Chirurg Nasr Omari (45) hat drei Jahre im Yarmouk-Krankenhaus gearbeitet, das wegen der zentralen Lage im Westen von Bagdad oft die erste Adresse nach schweren Anschlägen war. »Die Frischverletzten brauchten eine Erstversorgung, bevor wir sie operieren konnten«, erinnert er sich an die Zeit nach 2003, als fast täglich schwere Anschläge das Land erschütterten. »Damit es schneller ging, wurden Hände, Arme und Beine reihenweise amputiert und die Patienten nach Hause geschickt, um Platz für die nächsten zu machen.«
Soraur war mit ihrer Mutter auf dem Markt
Nasr Omari stammt aus einem irakisch-ägyptischen Elternhaus und ist in Bagdad aufgewachsen. 1998 spezialisierte er sich als Chirurg, arbeitete fünf Jahre im Militärkrankenhaus, bevor er 2003 ins Yarmouk-Hospital wechselte. 2006 floh er mit seiner Familie nach Jordanien. Weil er als Iraker dort keine Arbeit aufnehmen durfte, meldete er sich zu einer Fortbildung in den USA. Nach seiner Rückkehr hatte er Glück und fand eine Anstellung bei der französischen Hilfsorganisation »Médecins Sans Frontières« (MSF), die in Amman Experten für rekonstruktive Chirurgie suchte. Als ausländische Organisation konnte MSF irakisches Personal einstellen. Im Krankenhaus des Roten Halbmonds in Amman werden die schlimmsten Verletzungen irakischer Patienten neu operiert und korrigiert.
»Unser Ziel ist, den Menschen so viel Bewegungsmöglichkeit zurückzugeben, wie nur möglich«, erklärt die belgische Ärztin Annick Antierens, die das MSF-Projekt seit April 2009 leitet. Es sind die »direkten Opfer des Krieges in Irak«, die nicht nur physisch, sondern auch psychisch verletzt sind, sagt sie und erzählt von einem Pianisten, dessen Hände unwiderruflich verloren waren. »Die Opfer wurden beschossen, bei Explosionen von Splittern durchsiebt, erlitten schwere Verbrennungen oder verloren Hände, Augen, Kiefer oder einen anderen Teil ihres Körpers«, beschreibt Frau Antierens die Leiden ihrer Patienten. Eine Dokumentation und regelmäßige Untersuchungen in Irak ermöglichen eine Nachsorge, die vor allem für Kinder wichtig ist, deren Narben ihr Wachstum behindern.
Wie bei Soraur Ihsan (12) aus Diwanija, die 2005 mit ihrer Mutter auf den Markt zum Einkaufen gegangen war. Plötzlich gab es eine Schießerei zwischen US-Soldaten und Männern von der Mehdi-Miliz, erzählt das Mädchen, während es gedankenverloren die Buntstifte durch ihre Finger gleiten lässt, die auf einem Holztisch über ihrer Bettdecke liegen. Neben ihr kam es zu einer Explosion, die sie mit schweren Verbrennungen überlebte. »Gesicht, Brust, Hals, Nacken und Arme, alles war verbrannt«, erläutert Dr. Omari, der das Mädchen in den letzten anderthalb Jahren mehrmals operierte. Nun könne sie wieder laufen und beide Hände benutzen. »Weil sie im Wachstum ist und ihre Brust sich unter der vernarbten Haut nicht richtig entwickeln konnte, haben wir sie noch einmal operiert. Alles ist gut verlaufen und in zwei Wochen wird sie nach Hause können.«
Nie wolle er nach Irak zurückkehren, sagt Dr. Omari, »es wird doch Tag für Tag schlimmer«. »Die Ärzte dort sind stärker als wir, da bin ich mir sicher. Sie sind großartige Helden.« Seit August 2006 wurden in dem MSF-Projekt in Amman 750 irakische Patientinnen und Patienten operiert, 200 stehen auf der Warteliste und 35 neue kommen jeden Monat. Der jüngste Patient war 1,5 Jahre alt, der älteste 65, ausgesucht durch ein Netzwerk von Ärzten in Irak. MSF legt Wert auf die unabhängige, ausschließlich unter medizinischen Aspekten getroffene Auswahl.
»Weil ich dann mit dem Auto fahren kann«
Die Behandlung ist kostenlos, Kosten für Reise und Unterkunft werden übernommen, je nach Fall auch für eine Begleitperson. Für die Unterkunft in Amman hat MSF ein Hotel gemietet, in dem Patienten und Patientinnen während der oft monatelangen Rekonvaleszenz leben, wo sie physisch und psychisch versorgt werden.
»Unsere Patienten wurden vor zwei oder drei Jahren verletzt. Sie wurden nicht richtig behandelt, schlechte Hygiene verursachte Blutvergiftungen und Vereiterungen, die falsch behandelt wurden«, sagt Annick Antierens. »Kriege, Sanktionen, Mangel an Medikamenten und Fortbildung schränken die irakischen Ärzte ein.« Um Infektionen einzudämmen, wurden falsche oder abgelaufene Medikamente verschrieben, die zu einer »bizarren Verselbstständigung von Bakterien führten«, beschreibt die Ärztin das Problem. »Wir wissen oft gar nicht, mit was für einer Entzündung wir es zu tun haben.«
Wie bei dem kleinen Hussein aus Samawa, der von seinem Onkel begleitet wird. Weil seine schweren Verbrennungen wegen unklarer Infektionen nicht operiert werden können, liegt Hussein in einer Art Quarantänezimmer, das Fremde nur in Spezialkleidung betreten dürfen. Seine verbrannten Beine sind mit einem Leinentuch abgedeckt. Der 12-Jährige sei sehr lebhaft gewesen, bevor er Mitte März bei der Explosion auf dem Markt schwer verletzt wurde, erzählt sein Onkel. Drei Tage in der Woche half er einem Gemüsehändler, nachmittags, nach der Schule. Hussein selbst kann sich an nichts erinnern. »Sie waschen mich, tun Salbe auf die Beine, meine Zehen habe ich verloren«, sagt der Junge fast flüsternd. Eine Physiotherapeutin kommt herein, bringt Malbücher und einen Kasten mit Buntstiften. Der Junge lebt auf, lacht und scherzt mit der Therapeutin. Wenn er groß ist möchte er Polizist werden, sagt er. »Weil ich dann immer mit dem Auto fahren kann.«
Hussein ist ein schwieriger Fall, erklärt Dr. Omari. Immer wenn sie meinten, eine Infektion besiegt zu haben, tauche eine neue auf. »Aber es gibt schlimmere Fälle.« Nach der Operation durchlaufen die Patienten und Patientinnen ein intensives Rehabilitationstraining, das in Irak mit örtlichen Kooperationspartnern fortgesetzt wird. Drei Physiotherapeutinnen werden von der Deutschen Uta Prehl angeleitet. Die 42-Jährige leitet seit März 2009 das Reha-Projekt und ist bei der Hilfsorganisation Handicap International (HI) angestellt. Krücken und Rollstühle mussten angeschafft werden, der Trainingsraum wurde neu gestaltet, täglich mahnt sie die Physiotherapeutinnen, auf Hygiene zu achten, den Genesungsverlauf zu dokumentieren und sich mit den Ärzten abzusprechen. Wenn ihr Vertrag nach einem Jahr ausläuft, sollen die anderen in der Lage sein, das Projekt fortzusetzen, sagt Uta Prehl.
Zwölf Stunden im Einsatz
Noch am Nachmittag sind beide Operationssäle belegt, die dem Ärzteteam zur Verfügung stehen. Zehn, zwölf Stunden, manchmal länger ist das OP-Personal im Einsatz. Der Anästhesist Mahmud S. (Name geändert) macht gerade eine kurze Pause. Auch er stammt aus Bagdad, das er wie sein Kollege Omari verlassen musste, weil er und seine Familie bedroht wurden. Die Gewalt in Irak werde noch viele Jahre dauern, fürchtet er. »Nie hätte ich mir das 2002 vorstellen können, was aus unserem Land geworden ist«, sagt er. »Ist das gerecht? Vier Millionen Flüchtlinge im In- und Ausland, Millionen Waisen und Witwen, ist das Demokratie?« Doch dann entschuldigt er sich und geht zurück in Richtung Operationsraum. »Ich habe nur zehn Minuten Pause.«
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