Eine Übergangsheimat für die Kinder der Kriege

Der Verein »Friedensdorf International« in Oberhausen pflegt seit über drei Jahrzehnten Kinder aus Krisengebieten Nur selten fällt der Focus der Medien auf die stille Hilfe

  • Martin Höxtermann
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Naji Najibullah setzt ganz langsam ein Bein vor das andere. Rechts und links stützt sich der 14-jährige Junge auf metallene Krücken. Mit ihrer Hilfe kann er durch den schmalen Flur des Reha-Zentrums laufen. Bis vor kurzem noch konnte sich der Afghane nur mit einem Rollstuhl fortbewegen. Denn Naji Najibullah ist ein Minenopfer: Anstelle des linken Beines trägt er eine Prothese. Und auch das rechte Bein ist mit einer Schiene fixiert. »Genug für heute, du machst gute Fortschritte«, lobt ihn Claudia Wichern, die Physiotherapeutin des »Friedensdorfs« in Oberhausen. 138 Kinder zwischen ein und vierzehn Jahren aus mehr als zehn Ländern wohnen derzeit in den fünf Unterkünften - allesamt Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten, die in ihren Heimatländern medizinisch nicht versorgt werden können und nur in Europa eine Chance auf Heilung oder Linderung haben. Deshalb holt »Friedensdorf International« Kinder wie Naji Najibullah nach Deutschland - und das seit mittlerweile 35 Jahren. Allein im vergangenen Jahr brachte die gemeinnützige Hilfsorganisation, die sich fast ausschließlich aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen finanziert, 432 Kinder aus zehn Nationen nach Europa und sorgte für ihre kostenlose Behandlung in einem Krankenhaus. 400 europäische Kliniken arbeiten mit »Friedensdorf International« zusammen. Auch Naji Najibullah wurde zunächst zur stationären Behandlung nach Höxter und Wiesbaden gebracht, ehe er zur Rehabilitation nach Oberhausen kam. Am 4. März 2001 war er zusammen mit 117 anderen Kindern mit einer Boing 727 in Düsseldorf gelandet. Es war der 41.Afghanistan-Einsatz der Hilfsorganisation. Ärzte der afghanischen Partnerorganisation »Roter Halbmond« hatten Naji in Kabul untersucht und zum Flug nach Deutschland ausgewählt. Vorher musste seine Familie eine Garantieerklärung abgeben, dass er nach erfolgter Rehabilitation zurückkehren kann. Zuhause warten zwei Schwestern und drei Brüder auf ihn. Auch eine soziale Indikation gehört zu den Grundsatzkriterien der Organisation, die nur Kindern aus armen Familien hilft. Die Kinder kehren zurück, »wenn man hier nichts mehr für sie tun kann«, erklärt Krankengymnastin Claudia Wichern. In einem halben Jahr wird auch Naji Najibullah seine Koffer packen. Auf der Liste der Länder, aus denen Kinder zur Einzelfallhilfe nach Deutschland kommen, stehen über 40 Namen. »Oft genug werden die Namen dieser Länder von den schnelllebigen Schreckensnachrichten aus anderen Gebieten verdrängt«, erklärt Helga Kaczmarek, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. So komme auf jeden Angolaner noch immer mindestens eine Mine, und auch die Kinder Vietnams würden noch heute unter den Folgen des Krieges leiden, der 1975 beendet wurde. »Darüber berichten die Medien leider nichts mehr, obwohl das Leid nach wie vor existiert«, sagt Kaczmarek. Bündnisse mit friedenspolitischen Organisationen oder eine Beteiligung an Anti-Rüstungskampagnen suche man jedoch nicht. »Tagespolitik ist nicht unsere Sache, unser Kerngeschäft ist die humanitäre Hilfe«, erklärt dazu Helga Kaczmarek. Und vermag nicht zu sagen, wie man Brände löschen will, ohne den Brandstiftern in den Arm zu fallen. Stattdessen verweist sie auf die vielen Einzelnen, denen geholfen wurde. Neben körperlicher Heilung sollen die Kinder während ihres Deutschland-Aufenthaltes auch Hoffnung schöpfen und Kraft gewinnen Sie sollen erfahren, dass ein friedliches Zusammenleben mit anderen Kindern aus aller Welt möglich ist. Zu »Botschaftern für Toleranz, Verständigung und Frieden« sollen sie werden. Manchmal ist konjunkturell bedingte Medienaufmerksamkeit nützlich. Jahrelang war das Hilfsprojekt in Afghanistan aktiv, ohne dass die Öffentlichkeit Notiz nahm. Das änderte sich nach dem 11.September schlagartig. Die Folge: Im Dezember 2001 transportierte »Friedensdorf International« in drei Flugzeugen 90 Tonnen Winterhilfe, Kleidung und Medikamente nach Kabul und holte 30 akut kranke und verletzte afghanische Kinder zur medizinischen Behandlung nach Deutschland. Es war die größte Hilfsgüter-Menge, mit der die Organisation jemals in einem Krisengebiet eingreifen konnte. Ein weiterer Schwerpunkt ist die medizinische Unterstützung der Kinder in ihrer Heimat - auch durch Friedensdorf-Projekte, die dauerhafte und schnelle Hilfe vor Ort sicher stellen. Mittlerweile existieren in acht Ländern Friedensdörfer, die meisten davon in Vietnam. Dritte Säule ist die friedenspädagogische Arbeit des Bildungswerks der Organisation. Dem Kernprojekt in Oberhausen steht eine Sanierung und Erweiterung bevor. Vier bis sechs Häuser sollen im unteren Bereich des Dorfes neu gebaut werden, um die beengten Verhältnisse zu verbessern und Platz für Neues zu schaffen. Ein Schulhaus soll geschaffen werden, ein Ärztezentrum, ein neues Begegnungszentrum und Unterkünfte für Praktikanten. Die bestehenden Häuser werden teilweise abgerissen und neu gebaut, teilweise gründlich saniert. Damit reagiert die Organisation auch auf Kritik an der maroden Bausubstanz der über 30 Jahre alten Gebäude, der Überbelegung der Vier- bis Acht Bettzimmer und unzureichender medizinischer und pädagogischer Betreuung ihrer Schützlinge. Das Jugendamt des Landschaftsverbandes Rheinland erließ im vergangenen Jahr eine neue Betriebserlaubnis mit strengeren Auflagen. So sollen künftig 56 Betreuer, davon 28 mit pädagogischer Ausbildung, in dem Dorf arbeiten. Jede Kindergruppe soll zwei feste Bezugspersonen bekommen. Statt einer Großküche soll es künftig mehrere Küchen geben, in denen die Kinder selbst kochen können. Dank einer Millionenspende des Lion-Clubs soll mit den...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.