Der Überhang als Streitobjekt
Die SPD neidet der Union vorsorglich Mandate im nächsten Bundestag
In der zu Ende gehenden Legislaturperiode haben die Sozialdemokraten darauf verzichtet, eine Gesetzesänderung durchzudrücken, die sie mit Hilfe der Grünen und der LINKEN hätten erzwingen können. Es geht um die Regelung zu den Überhangmandaten, deren Zahl großen Einfluss auf die Stärke und Zusammensetzung des Bundestages hat. Nach der nächsten Wahl könnten sie womöglich die knappe Mehrheit von Union und FDP besiegeln. Die SPD-Spitzen raufen sich insgeheim die Haare. Kein Wunder – die Loyalität gegenüber dem Koalitionspartner in den letzten Jahren fällt ihnen nun womöglich auf die Füße.
Überhangmandate entstehen, wenn Parteien mehr direkt gewählte Abgeordnetensitze (über die Erststimme) erhalten, als ihnen nach den Zweitstimmen zustehen. Viele direkt gewählte Parlamentarier sorgen also für einen Überhang, der sich im Durchschnitt der Wahlen zwischen den großen Parteien bisher ausgeglichen hat, der aber immer einen Rest von Ungerechtigkeit beinhaltet. Das Verfassungsgericht hatte die Regelung im letzten Jahr deshalb für teilweise verfassungswidrig erklärt, für eine notwendige Verfassungsänderung jedoch Zeit bis Mitte 2011 gelassen. Auch bei der Bundestagswahl 2005 verschoben neun beziehungsweise sieben Überhangmandate bereits das Verhältnis zwischen SPD und Union – allerdings zu Gunsten der SPD. Mag sein, dass diese angenehme Erinnerung die nötige Sensibilisierung verhindert hat, den gegenteiligen Fall zu verhindern.
Für die bevorstehende Wahl ist daran nichts mehr zu ändern. Auf der Basis bisheriger Umfragen wird bereits spekuliert, dass die Union dank ihrer direkt gewählten Abgeordneten bis zu 20 zusätzliche Parlamentssitze erhalten könnte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits angekündigt, notfalls auch mit einer solchen Mehrheit zu regieren. Das Überhangmandat sei »kein Mandat zweiter Klasse«. In den aufgescheuchten Reihen der SPD ist nun bereits von Wahlbetrug die Rede, falls es Schwarz-Gelb nur dank der Überhangmandate zu einer eigenen Regierung brächte. Nach einer SPD-Präsidiumstagung sprach Parteichef Franz Müntefering am Montag davon, dass die SPD gern das Wahlrecht geändert hätte, aber am Koalitionspartner gescheitert sei. Wenn diese Änderung nun 2010 erfolge, könnte womöglich ein verfassungswidriger Zustand in der aktuellen schwarz-gelben Regierung geschaffen werden.
Auch die Grünen wählen deftige Worte. Merkel sei entschlossen, »mit einer ergaunerten Mehrheit weiterzuregieren«, da müsse man ihr einen Strich durch die Rechnung machen, sagte Spitzenkandidat Jürgen Trittin auf dem Kleinen Parteitag am Wochenende. Der Groll sitzt auch hier tief – allerdings aus einem anderen Grund. Die Grünen hatten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einen Antrag in den Bundestag eingebracht, den die SPD mit Nichtachtung strafte.
Während Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) diplomatisch anmerkte, dass auch der Grünen-Vorschlag einige strittige Regelungen enthalte, eine Änderung in ihrem Sinne also aufwändiger gewesen wäre, als jetzt dargestellt, brachte Innenminister Wolfgang Schäuble die Aufregung bei der SPD auf lakonische Weise auf den Punkt. Die Diskussion werde geführt, »bloß weil die SPD Schiss hat, weil sie die Wahlen verliert«, sagte Schäuble.
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