Werbung
  • Kalenderblatt

Gnadenfieber

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 2 Min.

5505 Gesetze hat der Bundestag laut Bundestagspräsident Norbert Lammer (CDU) von 1945 bis zu seinem 1999 vollzogenen Umzug nach Berlin beschlossen. Diese Bilanz legte er jüngst beim Festakt im Bonner Wasserwerk zum 60. Jahrestag der konstituierenden Sitzung des ersten Deutschen Bundestages vor – nicht ohne zu rühmen, dass durch diese »zentrale Institution« für den Westen Deutschlands »eine beispiellose Zeit des Friedens, der Freiheit und der Demokratie« begonnen habe.

Der Blick auf einige dieser vom Parlament vor allem in den ersten Jahren verabschiedeten Gesetze lässt daran Zweifel aufkommen. Am 26. September beriet die wenige Tage zuvor vereidigte Bundesregierung zum ersten Mal über ein »Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit«. Dessen Aufgabe beschrieb Kanzler Konrad Adenauer (Foto) wie folgt: »Wir haben so turbulente Zeiten hinter uns, dass es sich empfiehlt, Tabula rasa zu machen.«

Zwar waren zu dieser Zeit, vor allem in der Justiz und im Polizeiwesen, getreue und oft blutbefleckte Gefolgsleute des Naziregimes längst nahtlos und unbesehen übernommen. Nun aber sollten sie sich auch wieder »ehrlich« machen können. Alle Straftaten, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und einem Jahr Bewährung geahndet werden konnten, sollten amnestiert werden. Darunter fielen sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Kontrollratsgesetz Nr. 10, Freiheitsberaubung, Körperverletzung u. a.

Ende November leitete die Regierung dem Parlament das Gesetz zu, das darüber am 2. Dezember in Erster Lesung debattierte. Der Abgeordnete Bernhard Reismann von der Zentrumspartei konnte zufrieden bilanzieren, »dass der Grundgedanke der Notwendigkeit, Vergessen über die Vergangenheit zu decken ..., von allen Parteien des Hauses anerkannt wird«. Acht Tage später fanden die Zweite und Dritte Lesung statt, bei der das Gesetz »mit überwältigender Mehrheit« verabschiedet wurde. »Zehntausende von NS-Tätern« haben davon profitiert, schreibt Norbert Frei. (manche schätzen 80 000). Der Historiker nennt dieses Gesetz einen »Akt von hochgradiger Symbolik«. Von »hochgradiger Symbolik« war vor allem das Tempo, mit der Regierung und Parlament sich an das machten, was Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) am 2. Dezember 1949 als »Flurbereinigung für die Zukunft« ansah.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Mehr aus: