Es ist kein Zwang erkennbar

Der Deutsch-Sowjetische Freundschaftsvertrag vor 70 Jahren – Wahrheit, die nicht zu beschönigen ist

  • Kurt Pätzold
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer sich auf dem Gefechtsfeld Geschichte einigermaßen auskennt, war nicht überrascht, als zum 70. Jahrestag des Abschlusses des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages eine von der Wissenschaft ad acta gelegte Deutung wiederum unter das Publikum gebracht wurde. Die macht Hitler und Stalin als Schuldige am Zweiten Weltkrieg aus, dieser habe jenem den Weg in den Krieg freigemacht. Zweifel an deren Glaubwürdigkeit stellen sich allein schon ein, wenn gefragt wird, wer diesen Weg bis dahin denn eigentlich verbarrikadiert hatte. Auch die Verkürzung der Vorgeschichte des Krieges auf acht Tage, überzeugt nicht.

Schon bald nach Kriegsende 1918 waren geschlagene deutsche Generale entschlossen, ihre Niederlage zu korrigieren und Revanche zu üben. Seit dem vorletzten Januartag 1933 wurden im Innern des Deutschen Reiches die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass aus der Idee, ein Plan und dann ein Programm für den Weg in den Krieg werden konnte. Den hat den deutschen Imperialisten niemand innerhalb und außerhalb des Reiches mehr verlegt.

Für Deutschland bewirkte der Vertrag vom 23. August 1939 verbesserte Startbedingungen in den Krieg. Die Nazipropaganda schwelgte, diesmal müsse kein Zweifrontenkrieg geführt werden, und schrieb das der Genialität des »Führers« zu. Der Kriegsschock war in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung gedämpft und die Deutschen wurden auch mit dem Hinweis auf die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen darüber beruhigt, es könnte erneut zu den verheerenden Folgen einer britischen Seeblockade kommen.

Und die sowjetische Seite? Dass die Führung eines Staates seinen Bürgern Krieg zu ersparen, ja ihnen Frieden auch nur für eine begrenzte Zeitspanne zu sichern sucht, bedarf keiner Rechtfertigung. Das gilt selbst im Hinblick auf den Eintrittspreis, den Moskau entrichtete: die Bereitschaft, mit dem betrügerischen Partner Handel zu treiben, der dessen Kriegführung nützt. Von dem aber die Sowjetunion wegen der dringend notwendigen Ausweitung und Modernisierung ihres industriellen Potenzials ebenso Nutzen zog. Hätte das Vertragswerk damit sein Bewenden gehabt, würde darüber später nicht mehr geschrieben worden sein als über den deutsch-britischen Flottenvertrag von 1935 und weniger noch als über das Münchener Abkommen von 1938, das die Tschechoslowakei zerschlug. Dass im Kreml jedoch mehr vereinbart worden war als die Regelung bilateraler politischer und wirtschaftlicher Beziehungen, machte der 17. September 1939 klar. Da drang die Rote Armee in Ostpolen ein.

Der Kreml konzentrierte sich auf die historische Rechtfertigung der Inbesitznahme ostpolnischer Gebiete und die Behauptung von Vorteilen, die dem Lande daraus erwachsen seien. Es hätten zudem die Polen sich dieses Gebiet 1920 nach ihrem Kriegssieg angeeignet. Zunächst: Wer generell für rechtens hält, auf Kriege zurückgehende Grenzen mit militärischen Mitteln zu korrigieren, mag sich vorstellen, wie die Welt 2010 aussehen würde, nähmen alle betroffenen Staaten derlei Recht in Anspruch. Doch die deutsch-sowjetische Abmachung über den zwischen den beiden Großmächten gelegenen Staat ist darauf nicht reduzierbar. Denn sie besagte: Polen soll nicht wiedererstehen. Berlin und Moskau verständigten sich darüber, in ihren jeweiligen Gebieten nationalpolnische Bestrebungen zu unterdrücken. Stalins liquidatorischer Kurs gipfelte im Verbrechen von Katyn und vergiftete die Beziehung zwischen Polen und der Sowjetunion auf Jahrzehnte.

Was in Debatten über die Wirkung des August-Vertrages weitgehend ausgeblendet wird, sind seine Folgen für die Kommunisten außerhalb der UdSSR und unter den vielen Sympathisanten, die die Sowjetunion damals noch immer weltweit besaß. Das Land, das als unwandelbarer Gegner faschistischer Regime galt, im Völkerbund gegen deren Expansionspolitik aufgetreten und in Spanien dabei war, den Francofaschismus abzuwehren, machte sich über einen militärischen Leichnam – Werk der Naziwehrmacht – her.

Es folgte jene Tragödie, die sich unter Kommunisten wohl niemand auszudenken vermocht hatte: Als Polen zerschlagen und beseitigt war, erklärte Hitler heuchelnd, er sähe keinen Grund, weiter Krieg zu führen. London und Paris sollten auf sein »Friedensangebot« – in der Sache eine Kapitulationsforderung – eingehen, sonst wären sie als Kriegsinteressenten überführt. Stalin hat aus diesem Solovortrag ein Duett gemacht und ebenfalls die imperialistischen Westmächte zu Kriegsschuldigen erklären lassen. Ohne Not! Und rücksichtslos gegenüber den Kommunisten in Großbritannien, dessen Dominien und Frankreich, die damit zu Kämpfern auf falscher Seite gestempelt wurden. Dieser »große Führer« des internationalen Proletariats behandelte alle wohlbegründeten Analysen über Kriegsursachen und Kriegsinteressenten, die u. a. auf dem VII. Weltkongress 1935 vorgetragen worden waren, wie einen Wisch unnützen Papiers. Die Rollen hätten gewechselt, verkündete Molotow als Lautsprecher Stalins: Deutschland erstrebe das Kriegsende und den Frieden. Was Stalin sich daraus als Gewinn errechnet hat, steht dahin und lässt sich mangels verlässlicher Quellen nur mutmaßen. War das seine »Draufgabe« zum Vertrag?

Goethes Wort, wonach man beim ersten Schritt frei, beim zweiten Knecht sei, gilt für diesen Fall nicht. Es war und ist kein Zwang erkennbar, der faschistischen Führung diesen »Überpreis« zu zahlen. Das gilt auch für den Grenz- und Freundschaftsvertrag und die wiederum geheimen Zusätze, die Ribbentrop und Molotow am 28. September 1939 in Moskau unterzeichneten. In ihnen wurden Freundschaft zwischen den beiden »Völkern« erklärt und der Entschluss zu deren Entwicklung beteuert. Es wurden hierin das definitive Ende Polens bekräftigt, die abgesteckten »Interessengebiete« im Ganzen bestätigt, teils korrigiert und versichert, den in diesen lebenden Völkerschaften ein ihrer Eigenart entsprechendes friedliches Dasein zu sichern. Festgestellt wurde von beiden Vertragsseiten, wenn Großbritannien und Frankreich den Krieg fortsetzen würden, seien sie auch dafür verantwortlich zu machen. Was bedeutet, sie hätten sich mit den gewaltsam veränderten Zuständen in Osteuropa stillschweigend abzufinden.

Einzig aus dem objektiven Interesse der Sowjetunion, sich aus dem Krieg heraus zu halten, vor allem nicht in einen separaten Krieg mit dem faschistischen Deutschland zu geraten, lässt sich diese Politik des Kreml am Vorabend und in den ersten Wochen des Krieges nur erklären, wenn sie (wie jüngst auch in Leserbriefen im ND auf einen Artikel von Karl-Heinz Gräfe) amputiert und beschönigt wird. Das indes wäre ein Rückfall in alte und falsche Geschichtsbilder.

Gemeinsam mit Prof. Günter Rosenfeld hat Prof. Kurt Pätzold 1990 im Berliner Akademie-Verlag die Dokumentation »Sowjetstern und Hakenkreuz (1938-1941)« veröffentlicht.

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