Der Alptraum, der begeistert

Grips-Theater feiert sein 40. Jubiläum auf der ganzen Linie

  • Anouk Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit 23 Jahren fährt sie sich in die Herzen der Zuschauer, die legendäre Westberlin-Rock-Revue »Linie 1«, und ebenso lange weigerte sich ihr Autor Volker Ludwig, eine Fortsetzung zu schreiben. Zum 40jährigen Jubiläum seines Theaters, des Grips am Hansaplatz, hat er sich nun doch erweichen lassen. »Linie 2 – Der Alptraum« heißt das neue Stück, das weniger eine Fortsetzung ist als vielmehr eine bunte, selbstironische Reminiszenz an 40 Jahre Grips-Theater und an Theater überhaupt.

»Der Ruhm der ›Linie 1‹ verfolgt uns wie ein Alptraum, alles vom Grips wird daran gemessen«, begründet Theatergründer Ludwig den Titel des neuen Stücks, das Freitagabend am Hansaplatz seine begeistert gefeierte Uraufführung erlebte. Ludwig und sein Ko-Autor und Regisseur Rüdiger Wandel haben gar nicht erst versucht, ein neues U-Bahn-Stück zu schreiben, sondern lassen ihre Geschichte um die Magie des Theaters kreisen, um das Spiel im Spiel, um Bühnenalltag und Scheinrealität.

Im Mittelpunkt steht Schauspieler Thomas Kowalewski, eine Figur aus einem Stück von 1975. Seit 23 Jahren spielt Tommy den »Jungen in Hut und Mantel« in der »Linie 1«, fünf Mal im Monat, 50 Mal im Jahr. Kein Wunder, dass er Probleme hat, Scheinwelt und Realität auseinander zu halten. Und überhaupt: »Die Wirklichkeit ist meistens ne Enttäuschung!« Seine Bühnenliebe findet ihn zum Kotzen, die Gage reicht kaum zum Leben, und nun muss Tommy auch noch seine Wohnung räumen. Auf dem Weg durch die Stadt trifft er sowohl Wiedergänger aus alten Grips-Stücken als auch Menschen mit den Problemen von heute: Tessa zum Beispiel, der skrupellose Banker ihren fast abbezahlten Friseursalon wegnehmen und an eine Billigkette verpachten, Nedda, die illegal in Deutschland lebt, oder Gül, die junge Türkin, die sich ihren Traum von der Schauspielschule heimlich erfüllen muss. Und eine U-Bahn-Szene gibt es auch: Nach einem absurden Alptraum, in dem die Kontrolleure Maschinenpistolen tragen und der Ausstieg »nur über Leiter« möglich ist, schreitet er ein, als zwei Brutalos einen Transsexuellen zusammenschlagen – und wird per B.Z. prompt zum Helden erklärt. Der Schluss ist bestes Bühnen-Kintopp à la »Sommernachtstraum«, gereimt und in Farbe.

Mit der »Linie 2« haben Grips-Gründer Volker Ludwig und Ko-Autor Rüdiger Wandel ihrem Haus das beste Geburtstagsgeschenk gemacht. Wie eine Zeitmaschine trägt es den Zuschauer durch 40 Jahre linker Theatergeschichte und ist trotzdem hochaktuell. Witzig, selbstironisch und unsentimental sind Handlung, Dialoge und Texte. Wer noch nie im Grips war, wird das kritische Musicaltheater allein schon aufgrund der schrägen Figuren, der pointierten Dialoge und der tollen Songs genießen; wer die »Linie 1« und noch einige andere Stücke des Hauses kennt, wird herrliche Wiedersehensmomente feiern. Es lohnt sich, die Inszenierung mehrfach anzusehen, um die Anspielungen, Zitate, Ideen voll auskosten zu können.

Da fordern mit Ede und Hulda zwei Bekannte aus »Café Mitte« die Mauer zurück, trägt Thomas Ahrens, »Linie 1«-Darsteller der ersten Stunde, den legendären Leopardentanga aus »Baden gehen«, trifft in einer genialen Spielplatz-Szene der abgeklärte Erzieher aus dem 70er-Jahre-Stück »Mensch Mädchen« auf eine Kollwitzplatz-Mutti. Höhepunkt aber ist die aberwitzige U-Bahn-Alptraumszene, in der sich »Linie 1«-Bekannte, Fahrgäste aus »Melodys Ring« und neue Nervgenossen zu einem irrealen Irrwitz steigern.

Zusammengehalten wird die Szenenfolge durch das spielfreudige, bestens aufgelegte elfköpfige Darstellerensemble in gut 40 Rollen sowie durch die mitreißende Musik, alte Grips-Hits verwebt mit neuen Songs wie »Déja vu« oder »Luschen habt ihr keine Betten«. Zudem teilt der alte Kabarettist und bekennende Achtundsechziger Ludwig jede Menge bissiger Seitenhiebe aus an Casino-Kapitalisten, die FDP und auch an das Wahlvolk. Volker Ludwig hat wie ein Zaubermeister 40 Jahre Grips-Kosmos zu einem wunderbaren Abend verdichtet.

Oktober-Vorstellungen sind ausverkauft; Grips, Altonaer Str.22, Tiergarten; Karten:29 74 74 77

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -