Weltenmüde und rastlos

Behinderte und nichtbehinderte Künstler gastieren beim Festival »No Limits«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.
Szene aus »Winterreise ... und sind wir selber Götter« des Theater RambaZamba
Szene aus »Winterreise ... und sind wir selber Götter« des Theater RambaZamba

Wie die Jünger beim Abendmahl sitzen sie an einer langen weißen Tafel. Doch es ist kein Festessen, das sie lockt. Manisch zerreißen sie Papier, ballen, werfen die Schnipsel über den Tisch, verwandeln die Szene des Theaters Rambazamba in eine Schneelandschaft. Die Darsteller des renommierten Behindertenensembles wagen sich mit ihrer Inszenierung an ein Zentralwerk europäischer Musik: »Die Winterreise«, Schuberts weltenmüden, wanderwunden Liederkranz um Rastlosigkeit, Getriebensein, Vergänglichkeit, verlegt die Regisseurin Gisela Höhne in eine Anstalt.

Weggesperrt leben dort die Insassen ihre Einsamkeit, einer wähnt sich Schubert, auch alle anderen fühlen sich in der Rolle des jung gestorbenen Komponisten. Wilhelm Müllers Texttragik in Schuberts grandioser Vertonung erhält durch das nicht nur emotionale, sondern auch äußerliche Anderssein der Darsteller eine zusätzliche Ebene von Verletzlichkeit und damit Glaubwürdigkeit. Denn kaum bauen sich die Insassen Brücken durch ihre Welt und finden auch eine Art des Miteinanders, will der Pfleger als Macht von außen sie mit den täglichen Tabletten ruhigstellen. Die Menschen wehren sich, artikulieren über die Lieder ihren Schmerz, der so weit von dem Schuberts nicht liegt.

Sechs von ihnen singen, nicht im Sinn tonperfekter Interpretation, aber mit einer Inbrunst, die die eigene Erfahrung dem Lied addiert. So entsteht eine authentische Wiedergabe, die berührt und wohl auch den Komponisten bewegt hätte. Aus der Konfrontation von Anstaltsrealität und Kunstüberhöhung bezieht »… und sind wir selber Götter« – entlehnt einer Textzeile – seine besondere Spannung.

Dass Höhne den Zyklus uminstrumentiert, neben Klavier Streicher, Posaune, Schlagwerk und Gitarre einsetzt, passt ihn den Stückintentionen an. Ein Jahr hat das Ensemble an der Inszenierung gearbeitet, sich über das Weh der Gedichte wohl auch von eigenem Leid befreit. Über Eingesperrtsein erzählen sie in Wort, Spiel, Gesang, über ausbleibende Briefe und den Traum vom Liebsten. Sie verschaffen sich lärmend Gehör, agieren zwei Stunden lang mit physischem Einsatz, als ginge es um ihr Leben – um das es ja auch geht. Mit subtilen Bildern gewährt Höhne Einblick in den emotionalen Reichtum geistig Behinderter. Dafür gebührt allen Beteiligten Respekt.

Eingebettet ist der Abend in das Internationale Theaterfestival »No Limits«, das in der Kulturbrauerei, im Ballhaus Ost und der Segenskirche elf Tage lang in vierter Auflage 200 behinderte und nichtbehinderte Künstler aus zwölf Ländern zusammenführt. So adaptiert Norwegens Grusomhetens Teater Ibsens einzige Oper, gastiert der australische Figurentheater-Magier Neville Tranter mit einem poetisch schwarzhumorigen Hasen-Gleichnis, reist das Bremer Blaumeier-Atelier »In 80 Tagen um die Welt«.

Das Theater zum westlichen Stadthirschen & Theater Thikwa sowie Hans-Gerd Koch punkten mit Kafka; Mat Fraser & Julie Atlas Muz – USA-Beauty-Queen und englisches Contergan-Opfer – erzählen ihre Version von »The Beauty And The Beast«; Banality Dreams & Vidarasen Landsby aus Holland breiten Lebensträume aus; und mit dem Schweden Pierre Björkman stellt sich ein vielseitiger Solo-Comedian vor. Dazu gibt es Dichtung und Filme, mit einem Punkkonzert klingt das Festival aus.

Bis 25.10., Informationen unter www.no-limits-festival.de

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