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Totenstille auf der »Leichenbahn«
Kirche in Stahnsdorf kämpft für Wiederinbetriebnahme – Vertrag vor 100 Jahren geschlossen
Im stetig wachsenden Berlin wurde Ende des 19. Jahrhunderts der Platz auf den Friedhöfen knapp. Weit über 100 Verstorbene mussten täglich bestattet werden, bald waren es rund 50 000 Tote im Jahr. Also beschloss die Berliner evangelische Kirche, einen Zentralfriedhof außerhalb der Stadt einzurichten: Im Frühjahr vor 100 Jahren wurde der Südwestkirchhof in Stahnsdorf eröffnet.
Wenige Monate später wurden die Weichen für eine moderne Verkehrsanbindung zu der abgelegenen Begräbnisstätte gestellt – am 21. Oktober 1909 unterzeichneten die Kirche und die Preußische Staatseisenbahn einen Vertrag über den Bau der Bahnstrecke. Darin verpflichtete sich die Kirche, der Bahn das Gelände zur Verfügung zu stellen und die Kosten für Grundstücke und Bauarbeiten zu tragen. Im Gegenzug sicherte die Bahn Betrieb und Erhalt der Friedhofslinie zu.
Im Sommer 1913 ging die »Leichenbahn« in Betrieb und ersetzte nicht nur den Autotransport der Leichname aus 21 Berliner Kirchgemeinden von Wannsee nach Stahnsdorf, sondern machte den Landschaftspark nebenbei auch zu einem begehrten Ausflugsziel. Fast 50 Jahre blieb die Strecke in Betrieb. Aber seit dem Mauerbau 1961 ruht der Verkehr. Die rund vier Kilometer lange Strecke wurde stillgelegt und demontiert, der Bahnhof in Stahnsdorf 1976 abgerissen.
Das rund 206 Hektar große Kulturdenkmal mit dem zum Teil der Natur überlassenen Waldgelände, kunstvollen Grabanlagen und schlichten Urnenhainen ist seither mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur noch schwer zu erreichen. Rund 120 000 Verstorbene sind dort beigesetzt, darunter Prominente wie Stummfilmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau, der Maler Lovis Corinth und der Milieuzeichner Heinrich Zille. Wer ihre Ruhestätten oder die Gräber von Angehörigen aufsuchen will, muss umständliche Busfahrten in Kauf nehmen oder mit dem Auto anreisen.
Nicht alle haben sich mit der Stilllegung abgefunden: Seit fünf Jahren klagt die evangelische Kirche gegen die Deutsche Bahn AG, um eine Wiederaufnahme des Betriebs durchzusetzen. Doch das lehnt die Bahn kategorisch ab. Kein Verkehrsbedarf, heißt es zur Begründung. Auch sei mit der deutschen Teilung und dem Mauerbau die Geschäftsgrundlage weggefallen, lautet ein weiterer Grund. Aus dem Vertrag von 1909 seien »keine Rechtsansprüche mehr ableitbar«.
Seit Jahren liegt der Rechtsstreit nun vor dem Berliner Verwaltungsgericht, ohne dass es dabei vorangeht. »Nichts Neues«, heißt es dazu regelmäßig in der Berliner Kirchenverwaltung. Die Kirche bleibe bei ihren Forderungen an die Bahn, betont der landeskirchliche Chefjurist, Konsistorialpräsident Ulrich Seelemann. Die Kirche habe ihre Verpflichtungen aus dem Vertrag von 1909 erfüllt. »Nun ist die Deutsche Bahn AG als Rechtsnachfolgerin der Königlich Preußischen Staatsbahn dran, ihre Verpflichtung weiter zu erfüllen.«
Seit 1990 gebe es keinen Grund mehr, das nicht zu tun, ergänzt der ehemalige Richter aus Hamburg. Die Bahn habe die Grundstücke von der Kirche »nicht bekommen, um daraus Geld zu machen, sondern nur, um darauf eine Eisenbahn zu betreiben«. Die Kommune steht auf seiner Seite: »Wir sehen das so, wie die Kirche das sieht«, betont der Stahnsdorfer Bürgermeister Bernd Albers (parteilos).
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