Die Lenin-Zeitmaschine
Ausstellung und Auktion zu sowjetischer Propaganda-Kunst in der Galerie Van Vliet
Der russische Revolutionär, der das vergangene Jahrhundert prägte, reitet von roten Fahnen umflattert in die im schwarz-gelben Würgegriff liegende deutsche Hauptstadt ein. Als Leinwandheld nur kommt er daher, als solcher aber in vielfacher Gestalt. In der Ausstellung »Hinter dem Eisernen Vorhang. Die Kunst des sozialistischen Realismus« in der Galerie Jeschke Van Vliet ist Lenin argumentierend unter Volksdeputierten zu sehen. Energisch gestikulierend, redet er von einer Plattform auf einen Demonstrationszug herab. Er schreitet eine Treppe herunter, ist in einer Fabrikhalle von Arbeitern und in einem Lazarett von Kranken umringt. Er diskutiert mit Bauern und Kindern und gibt auch im Salon mit Piano eine gute Figur ab. Lenin, der Tausendsassa, ist überall zu Hause.
Italienische Kunstsammler, die sich nicht schämen, auch heute noch Sympathie für sozialistische und kommunistische Ideale im Herzen bewahrt zu haben, sind nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch das Riesenreich gereist und haben Gemälde des sozialistischen Realismus aufgekauft. Oft fanden sie sie in denkbar schlechtem Zustand vor: Die Farben waren verblasst, die Deckschicht verschmutzt, die Leinwände zum Teil zerrissen und durchlöchert. Sie lagen in Abstellkammern, verlassenen Fabriken und Kulturhäusern, waren zum Teil aber auch von den Künstlern selbst geborgen worden. Weil es sich meist um Auftragsarbeiten für heute zum Teil nicht mehr existierende Institutionen handelte, die Rechtsnachfolger aber oft kein Interesse an diesen Zeugnissen einer vergangenen Epoche hatten, gestaltete sich der rechtmäßige Erwerb zuweilen abenteuerlich, wie am Rande der Ausstellungseröffnung zu erfahren war.
Ungefähr 600 Bilder aus den 30er bis in die 80er Jahre bilden den Bestand der Sammlung. Neben der Gruppe der Lenin-Abbildungen sind Ansichten aus der sozialistischen Produktion, von heroisch dargestellten Kriegsszenen, aber auch friedliche Landschaftsbilder mit Feld, Wald, Fluss und Berg zu betrachten. Als Einzelporträts ragen ein Bildnis des ersten Kosmonauten Juri Gagarin und das Angesicht einer Fliegerin, das sehr stark an Gagarins weibliches Pendant, Valentina Tereschkowa, erinnert, heraus.
Verdienst der auch politisch motivierten Initiatoren ist es, alle diese Werke sorgfältig restauriert, zum großen Teil den Urhebern zugeordnet und deren Werdegang dokumentiert zu haben. Jetzt leuchten und strahlen sie und zeugen im grauen Berliner Herbst von Idealen, die zwar selbst zur Zeit des ersten Pinselstrichs weitgehend nur in der Imagination manches Künstlers und manches Auftraggebers einen Platz gehabt haben mögen. Aber immerhin gab es damals noch eine Leitidee, die über das Zeitfenster bis zum nächsten Wahlkampf hinaus reichte.
Die Hälfte des Sammlungsbestandes, ungefähr 300 Arbeiten, sind im Kunstdepot der Galerie Jeschke Van Vliet ausgestellt. Sie sind nach Themengruppen geordnet. Hier die Leninbilder, dort der Krieg, da die Landschaft, dort die Produktion. Der Rundgang durch die einzelnen Räume gestaltet sich daher zu einer Parade der landläufig bekannten Motive. Weil das Auge nichts anderes als sozialistischen Realismus erblicken kann und die restaurierten Bilder frisch wie am Tag der Fertigstellung wirken, fühlt man sich wie in eine Zeitmaschine versetzt. Wer dieses Gefühl regelmäßig erfahren möchte, sollte die Auktion am 6.11. ab 19 Uhr nicht verpassen. Dann werden ca. 140 der präsentierten Werke meistbietend versteigert.
Hinter dem Eisernen Vorhang. Die Kunst des sozialistischen Realismus, Galerie Jeschke Van Vliet, Schützenstr. 39, geöffnet Mi. – Mo., 11 – 20 Uhr, die Auktion findet statt am 6.11. um 19 Uhr.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.